Ein süßer Hauch von Anarchie
Fotos: Dominique Persoone
Dominique Persoone
Dominique Persoone, der sich selbst gerne als „Shock-o-latier“ bezeichnet, genoss keine klassische Pâtissier-Ausbildung, sondern besuchte die Hotelfachschule in Brügge. Nach einer Stage bei Pierre Hermé in Paris eröffnete Persoone 1992 seine erste Chocolate-Line-Boutique in Brügge, die mittlerweile eine Schwester in Antwerpen hat. Berühmt wurde der Belgier mit ausgefallenen Kreationen wie der Schokolade zum Sniffen und seiner Zusammenarbeit mit Mode-Couturiers und Künstlern. Sein Buch „Cacao – The Roots of Chocolate“ wurde 2009 zum besten Schokoladenbuch der Welt gekürt.
Ich bin gerade erst von Europas größtem Electronic Dancefestival namens Tomorrowland zurückgekehrt. Sergio Herman, Jordi Roca und ich haben dort ein wirklich sehr kleines „Secret Restaurant“ im Bereich der Mainstage auf die Beine gestellt und basierend auf einer Idee von Jordi ein Dessert aus Hefe-Eiscreme serviert. Passend zu den Beats um uns herum haben wir das Ganze als falsches Brot getarnt und mit einem kleinen versteckten Motor ausgestattet, der die Bewegung eines pumpenden Herzens imitiert…
Fotos: Dominique Persoone
Dominique Persoone
Dominique Persoone, der sich selbst gerne als „Shock-o-latier“ bezeichnet, genoss keine klassische Pâtissier-Ausbildung, sondern besuchte die Hotelfachschule in Brügge. Nach einer Stage bei Pierre Hermé in Paris eröffnete Persoone 1992 seine erste Chocolate-Line-Boutique in Brügge, die mittlerweile eine Schwester in Antwerpen hat. Berühmt wurde der Belgier mit ausgefallenen Kreationen wie der Schokolade zum Sniffen und seiner Zusammenarbeit mit Mode-Couturiers und Künstlern. Sein Buch „Cacao – The Roots of Chocolate“ wurde 2009 zum besten Schokoladenbuch der Welt gekürt.
Ich bin gerade erst von Europas größtem Electronic Dancefestival namens Tomorrowland zurückgekehrt. Sergio Herman, Jordi Roca und ich haben dort ein wirklich sehr kleines „Secret Restaurant“ im Bereich der Mainstage auf die Beine gestellt und basierend auf einer Idee von Jordi ein Dessert aus Hefe-Eiscreme serviert. Passend zu den Beats um uns herum haben wir das Ganze als falsches Brot getarnt und mit einem kleinen versteckten Motor ausgestattet, der die Bewegung eines pumpenden Herzens imitiert. Ein paar Wochen zuvor war ich bei Alex Atala in Brasilien zu Besuch, wo wir gemeinsam an fünf neuen Schokoladekreationen gearbeitet haben. Darunter auch eine, in der wir das dort allseits beliebte Touristenhobby, leicht giftige gelbe Amazonasfrösche abzulecken, um high zu werden, kulinarisch aufgegriffen haben. Unsere Version des Psycho-Frosches bestand aus Schokolade, Limette, Chili, Koriander und einem Spritzer des Betäubungsmittels Lidocain als Topping. Zwei Minuten Taubheitsgefühl im Mundraum sind garantiert, bevor eine Aromenexplosion, die ihresgleichen sucht, die vorangegangene Sinnessensation alt aussehen lässt.
Sie fragen sich jetzt wahrscheinlich, warum ich Ihnen das alles erzähle. Seien Sie versichert, dass ich kein Bedürfnis verspüre, der Welt klarzumachen, was für ein toller Hecht ich bin. Vielmehr möchte ich mit diesen beiden kleinen Anekdoten aus meiner täglichen Arbeit aufzeigen, welche möglichen Szenarien sich in der modernen Pâtisserie abzeichnen – und ganz bestimmt auch in Zukunft abzeichnen werden. Dieses Handwerk war noch nie so jung, lebendig, verspielt, international, experimentell und nah an den Menschen dran wie heute. Vor 20 Jahren noch bestand die viel zitierte „Kunst der süßen Verführung“ darin, das Altbewährte mit altbewährten Zutaten in altbewährter Manier an unbewegliche, der Welt verschlossene Gaumen zu bringen. Noch vor weniger als fünf Jahren hielten mich die Leute für völlig irre, weil ich den Rolling Stones Schokolade zum Sniffen servierte und ernsthaft an Wasabi-Pralinés arbeitete.
Wenn ich heute nach einer Nacht voller Grübeleien über ein paar Gläsern Gin Tonic in meine Werkstatt gehe und an einem Hanf-Gin-Dessert tüftle, der klassischen Haselnuss-Praline den Todesstoß versetze, indem ich anstelle der Nüsse Hanfsamen verwende, mich ins Flugzeug setze, um in Mexico meine Kakaoplantage zu besuchen oder in London mit Heston Blumenthal und dem Tattookünstler Henry Height an einer Schokoladen-Tattoo-Kollektion arbeite, dann tippt sich niemand mehr an die Stirn und sagt: Der spinnt doch. Die Offenheit der Gäste von heute gegenüber Neuem, ihr gesteigertes Bewusstsein für und das große Interesse an der Herkunft der Basisprodukte und die Tatsache, dass das süße Metier noch nie so interdisziplinär war, sind eine riesige Chance für alle, die sich diesem Zweig mit Haut und Haaren verschrieben haben. Die Globalisierung bietet, all den Schattenseiten zum Trotz, gerade in der Pâtisserie und vor allem in puncto Produktvielfalt und -qualität, Technologie und Know-how-Transfer enorme Möglichkeiten.
Die Klassiker der Pâtisseriekunst werden auch in den kommenden Jahren nicht von Veggie-Desserts & Co. verdrängt werden. Aber sie werden verspielter, facettenreicher und aufgrund der Tatsache, dass es heute möglich ist, die besten Grundprodukte aus allen Teilen der Welt von einer wachsenden Zahl an kleinen, spezialisierten Produzenten zu beziehen, auch für den Gast völlig neu erlebbar. Ich sehe es als ein großes Privileg, eine Generation von aufgeschlossenen, mündigen, bewussten und gleichzeitig stark genussorientierten Gästen mit meinen Kreationen begeistern zu dürfen. Die verhältnismäßig engen Grenzen, in denen sich die Pâtisserie lange Zeit bewegt hat – und teilweise bewegen musste – existieren Gott sei Dank nicht mehr.
Darf Karamellschokolade mit Reisessig, Sojasauce und Mohn auf einen Teller? Natürlich! Wird es bald nicht nur mehr in Hongkong Pop-up-Pastry-Restaurants geben? Hundertprozentig! Lediglich eine einzige Regel wird auch in 100 Jahren noch Gültigkeit besitzen: Der Geschmack ist und bleibt das Einzige, was wirklich zählt. Wenn ich also abschließend so etwas wie einen weisen Rat an die wundervolle neue Generation an Chocolatiers und Pâtissiers erteilen müsste, dann lautete er: Macht, was ihr wollt, aber steckt in jedes noch so banale Küchlein die Leidenschaft, ein geschmackliches Kunstwerk zu erschaffen.