Das Geheimnis des Weinstockchirurgen
Eigentlich wollte er Tierarzt werden. Doch über Umwege kam es dazu, dass der Italiener Marco Simonit heute keine Tiere, sondern Pflanzen verarztet. Nicht irgendwelche Pflanzen: Weinstöcke. Wie es dazu kam? Alles beginnt bei finanziellen Schwierigkeiten …
Eigentlich wollte er Tierarzt werden. Doch über Umwege kam es dazu, dass der Italiener Marco Simonit heute keine Tiere, sondern Pflanzen verarztet. Nicht irgendwelche Pflanzen: Weinstöcke. Wie es dazu kam? Alles beginnt bei finanziellen Schwierigkeiten …
… Denn da sich Simonit kein Studium finanzieren konnte, besuchte er eine Landwirtschaftsschule in der Nähe des Bauernhofs seiner Eltern. Später arbeitete er auch dort, aber eher fürs Geld, als für den Spaß.
Weinreben mit Schlaganfall
Bei der Arbeit mit Weinstöcken stellte er schnell fest, dass diese nicht gesund sein konnten. Er spricht von einem regelrechten „Schlaganfall“ der Pflanzen, den er immer wieder bemerkte. Die Winzer machten sich darüber keine Gedanken, rissen die abgestorbenen Reben einfach aus und pflanzten daraufhin neue.
Simonit wollte dem mysteriösen Aussterben der Weinreben aber genauer auf den Grund gehen.
So startete er seine Karriere als „Weinstock-Medicus“ und sezierte die erkrankten Pflanzen. Sein Resümee: Die Stöcke waren von der gnadenlosen Pilzkrankheit Esca befallen.
Esca-Exkurs
In den 1970er Jahren bemerkten spanische Winzer zum ersten Mal, dass ihre Rebstöcke nach und nach kaputt gingen. Im Sommer färbten sich die Blätter braun, später wurden auch die Trauben befallen, bis die gesamte Pflanze dem Tod geweiht war.
Zu Beginn wurde der Krankheit kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Doch mittlerweile wütet sie in allen Weinregionen der Welt und ist zu einem pandemischen Problem geworden. Experten sind der Meinung, dass die intensive, auf Quantität fokussierte Landwirtschaft der Verbreitungsgrund ist. Die Maschinen, mit denen meistens gearbeitet wird, dürften den Pilz aufgenommen und auf jede weitere Pflanze übertragen haben.
Viele Winzer:innen sind davon überzeugt, dass der Pilz heutzutage fast in jeder Rebe schlummert. Den Ausbruch beugen viele mit Pflanzenschutzmitteln vor, wovon Simonit jedoch gar kein Fan ist, da sie die Qualität des Endprodukts massiv beeinträchtigen.
Die weltbewegende Erkenntnis
Bei der Obduktion und Recherchen zur Pilz-Beseitigung kam Simonit gemeinsam mit seinem Geschäftspartner Pierpaolo Sirch zur bahnbrechenden Erkenntnis:
Im Normalfall werden die meisten neuen Triebe an den Reben jeden Winter abgeschnitten, um den Saftfluss der Pflanze in den wenigen zu konzentrieren, die dranbleiben und Trauben tragen werden. Der Rebschnitt ist also ein Mittel zur Kontrolle der Menge und Qualität der Trauben.
Simonit erklärt: “Beim Beschneiden der Reben fügt man der Pflanze unweigerlich Wunden zu, deren Anzahl nimmt naturgemäß jedes Jahr zu, und da die Weinrebe im Unterschied zu einem Baum ihre Wunden nicht verschließen kann, trocknen diese einfach aus und es entsteht eine Art trockener Kegel im Holz unter den Wunden, was wiederum die Säfte am Fließen hindert.”
Durch den jährlich wiederholten Schnitt, bildet sich eine Art Knoten mit zahlreichen ausgetrockneten Stellen, die den natürlichen Saftfluss blockieren.
„Deswegen streben wir danach, dass sich statt eines Kopfes zwei seitliche Äste bilden – wir nennen sie Kanäle –, auf denen die Triebe wachsen, sodass die Saftströme unter den Schnittwunden hindurch durch die Triebe bis in die Blätter und Trauben fließen können“, betont Simonit.
Diese „sanfte“ Technik war früher bei Winzern weit verbreitet, wurde durch die Intensivierung des Weinbaus in den 70er-Jahren aber weitgehend vergessen.
„Die Weinrebe ist bekanntlich eine Schlingpflanze, braucht also Raum, um zu wachsen und sich entfalten zu können, doch mit den modernen Methoden, die seit ungefähr 50 Jahren weltweit eingeführt wurden und darauf abzielten, möglichst viele Reben in ein und demselben Weingarten zu pflanzen, wird ihr dieser Raum verwehrt“, ergänzt der Italiener.
Um ein möglichst langes und gesundes Leben zu führen, müsse der Rebe erlaubt werden, besagte Äste zu entwickeln. Eine ältere Pflanze brauche folglich auch mehr Platz als eine junge. Sie wächst also in die Breite.
„Obwohl das mehr als logisch scheint, wird dieses fundamentale Prinzip im modernen Weinbau ignoriert. Um nämlich die Produktionskosten zu senken und am internationalen Markt bestehen zu können, wird die Rebe durch den klassischen Schnitt auf standardisierte Formen und Dimensionen zurückgeschnitten“, sagt Simonit.
Qualitätsbewusstsein
Es ist kein Geheimnis, dass aus alten Reben geschmacklich komplexerer Wein fließt. Darum sind sich viele Weinbauern der Wichtigkeit der Erkenntnis von Simonit und Sirch bewusst.
Bis dato meldeten sich schon einige Winzer renommierter Weingüter (Château Cheval Blanc, d‘Yquem, Margaux. Roederer etc.) bei den beiden. Immerhin bringen alte Reben den teuren, besonderen Wein hervor und den gilt es zu beschützen.
The Pruning Guys
Gemeinsam mit seinem Freund Sirch gründete er die Simonit & Sirch Academy in seinem Heimatdorf in der Nähe von Udine. Winzer:innen aus der ganzen Welt pilgern hierher, um den sanften Rebschnitt der selbsternannten „Pruning Guys“ zu lernen.
Es beeindruckt die Besucher:innen immer sehr, wenn Simonit von seinen 80 Jahre alten Reben erzählt – die nicht ihm, sondern einem lokalen Winzer gehören. Mittlerweile betreuen die Pruning Guys 150 Weingüter in 15 Ländern, auch in Österreich und Deutschland.
Der Rebschnitt – aus Hass wird Liebe
Der Rebschnitt wird von vielen Winzer:innen als undankbare, stiefmütterliche Arbeit gesehen. Oft sind Hilfsarbeiter:innen zu schlechten Bedingungen und mit niedrigem Lohn im Einsatz – beispielsweise in Kalifornien, wo illegale Einwanderer so ihre Brötchen verdienen. Für den sanften Rebschnitt erfordert es eine Einschulung dieser Landarbeiter.
„Und bessere Ausbildung bedeutet auch bessere Bezahlung,“ sagt Simonit. Wenn er in Ländern wie Südamerika oder Südafrika unterwegs ist, sorge der sanfte Rebschnitt nicht nur für gesündere Weingärten, sondern auch für mehr soziale Gerechtigkeit.
Der österreichische Winzer Alwin Jurtschitsch wendet auf seinem Weingut den sanften Rebschnitt mittlerweile ebenfalls an. In einem Interview mit welt.de sagte der Winzer:
„Den Pruning Guys ist es zu verdanken, dass der lange Zeit stiefmütterlich behandelte Rebschnitt heute als ziemlich sexy gilt.“
Der Niederösterreicher stammt aus einer namhaften Weinbauernfamilie und gilt als einer der angesehensten Winzer des Landes. Seit der Zusammenarbeit mit Simonit sagt der Kamptaler:
„Inzwischen frage ich mich, warum wir bloß nicht schon früher nach ihrer Methode gearbeitet haben. Heute stellen wir eine viel bessere Einheitlichkeit bei den Trauben im Weingarten fest. Rebstöcke, auf denen früher ein Trieb gut verholzt war und ein anderer grün geblieben ist, werden heute völlig gleichmäßig versorgt.“
Der Rebstock-Retter
Simonit ist es also gelungen, das Leben unzähliger Weinreben zu retten und deutlich zu verlängern. Er konnte zwar nicht seinem Lebenstraum nachgehen, Tierarzt zu werden, doch hat etwas Ähnliches geschafft: Die Verarztung von schwer erkrankten Rebstöcken und somit die Rettung des hochwertigen Weines und unzähliger Weinbauern.
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Die beiden Geschäftspartner