Massimo Bottura: Dieser Mann wird die Welt retten
Italiens Unruhestifter
Das dolce far niente – das süße Nichtstun –, das jenseits der Alpennordseite den Italienern pro forma unterstellt wird, und die Slapstick-Komik eines Roberto Benigni – darauf ist Massimo Bottura im Moment nicht gut zu sprechen. Beides zeichnet in seinen Augen das Bild eines Italieners, der die aktuelle weltpolitische und sozioökonomische Lage entweder nicht erkennt oder – was in seinen Augen wesentlich schlimmer ist – zur Kenntnis nimmt, aber beschließt, diese zu banalisieren und zu bagatellisieren.
Die Reaktion von Massimo Bottura darauf: höchst allergisch. Denn der Chef von Europas bestem Restaurant, der Osteria Francescana in Modena, hat sich seit einigen Jahren Folgendes vorgenommen: die Welt zu retten.
Italiens Unruhestifter
Das dolce far niente – das süße Nichtstun –, das jenseits der Alpennordseite den Italienern pro forma unterstellt wird, und die Slapstick-Komik eines Roberto Benigni – darauf ist Massimo Bottura im Moment nicht gut zu sprechen. Beides zeichnet in seinen Augen das Bild eines Italieners, der die aktuelle weltpolitische und sozioökonomische Lage entweder nicht erkennt oder – was in seinen Augen wesentlich schlimmer ist – zur Kenntnis nimmt, aber beschließt, diese zu banalisieren und zu bagatellisieren.
Die Reaktion von Massimo Bottura darauf: höchst allergisch. Denn der Chef von Europas bestem Restaurant, der Osteria Francescana in Modena, hat sich seit einigen Jahren Folgendes vorgenommen: die Welt zu retten. Und wenn man nicht die ganze Welt retten kann, dann zumindest dem Hunger und der Abfallwirtschaft den Kampf ansagen. Während er am Abend in der Osteria Francescana, deren Gäste mitunter auch klingende Namen wie François Hollande haben, das zwölfgängige Tasting-Menü um 250 Euro anbietet, schlägt er mit seiner „Food for Soul“-Organisation eine ganz andere Richtung ein: Armenspeisung.
Aber es wäre nicht der Mastermind – in genialer wie künstlerischer Hinsicht – von Massimo Bottura, wenn die Sache nicht noch einen zusätzlichen Twist hätte. „,Food for Soul‘ bedeutet nicht, jemanden satt zu bekommen. Es bedeutet, den Magen und den Kopf zu beleben. Das, was wir aufbauen, da findet man keine hässlichen Plastiktische, kein Billig-Besteck oder kahle Wände. Wir erschaffen Orte, die Behagen ausstrahlen und den Sinn für Kunst ansprechen, die Poesie des Lebens soll entfacht werden. Wenn es arm aussieht, wie sollen sich dann die Menschen fühlen?“
Das „wir“, das ist allen voran Lara Gilmore, die Ehefrau von Massimo Bottura und Präsidentin des Non-Profit-Unternehmens, das mit dem spektakulär aufgezogenen Refettorio Ambrosiano während der Mailänder Expo 2015 seinen Anfang nahm und heute als Vorzeigeprojekt für soziales Engagement gilt.
Seelenfutter für alle
Es ist die eine simple Idee, die zwei globale Probleme auf einen Schlag zwar nicht lösen wird, aber der Ansatz für eine nachhaltige Verbesserung der Lage ist. Duales Weltretten auf Etappen und durch Kettenreaktion sozusagen. Den Kick-off zu „Food for Soul“ gab der Titel jener besagten Expo in Mailand: „Feeding the Planet, Energy for Life“.
„In der Zeit las ich einen Artikel, in dem stand, dass jährlich 1,6 Billionen Tonnen an Nahrungsmitteln weggeschmissen werden. Ein Wahnsinn und für mich stand fest, dass die Wertigkeit von Lebensmitteln an sich wieder steigen muss. Nach einigem Hin und Her entstand meine Idee, die besten Küchenchefs der Welt nach Mailand zu holen und sie dort mit den nicht verwendeten Lebensmitteln der Länderpavillons kochen zu lassen.“
Der Name: Refettorio Ambrosiano, zu Deutsch „mailändischer Speisesaal“. Nach Gesprächen mit Kardinal Scola (und der wiederum hielt Rücksprache mit Papst Franziskus, der, seitdem er bei der Verabschiedung beim ersten Angelusgebet vom Balkon am Petersplatz die Worte „Buon pranzo“, also „guten Appetit“, verwendete, in Bottura einen Fan hat) ändert der gebürtige Modener den Standort des Projekts und verlegt es vom Mailänder Hauptbahnhof hin in das ehemalige Theater der Pfarrkirche von San Martino im Armenviertel Greco.
Mit kostenloser Hilfe der polytechnischen Universität wird das Gebäude restauriert, Künstler wie Giuseppe Penone oder Mimmo Paladino spendieren Kunstwerke und zwölf Designer entwerfen Tische, die bereits vor der Expo bei Sotheby’s versteigert wurden. Am Ende engagierten sich mehr als 65 internationale Küchenchefs im Refettorio Ambrosiano, von Alain Ducasse über Gastón Acurio bis hin zu Daniel Humm und Ana Roš, dafür, übrig gebliebe Nahrungsmittel, die weggeworfen werden sollten, in Menüs für Obdachlose und Bedürftige zu verwandeln.
Wenn Massimo A sagt, dann auch B bis Z
Nach dieser Initialzündung machte es auch bei Massimo Bottura nochmals klick. Bei dieser Momentaufnahme und der einen originellen Idee der Solidarität kann es nicht bleiben. „Food for Soul“ wird gegründet und im April 2016 offiziell als Non-Profit-Unternehmen eingetragen, um den Gedanken des Refettorio Ambrosiano reproduzieren zu können.
Im selben Jahr bereits folgte medial leise das Social Tables Antoniano in Bologna, eine dauerhafte Kolaboration mit einer bereits existierenden Suppenküche, sowie das weltweit für Aufsehen sorgende Refettorio Gastromotiva in Rio de Janeiro. Gleiches Konzept wie bei der Mailänder Expo, nur waren es diesmal die Olympischen Sommerspiele und das Viertel Lapa in der Innenstadt von Rio. Gemeinsam mit Designern des studio METRO Architecture, Vik Muniz sowie Fernando und Humberto Campana wurde Botturas künstlerische Vision umgesetzt, die gastronomische von mehr als 80 lokalen und internationalen Küchenchefs, die die unverbrauchten Lebensmittel aus dem olympischen Dorf in mehr als 3000 Essen transformierten.
Für mich ist altes Brot und Kaviar gleichwertig.
Durch den medialen Hype und die Hartnäckigkeit der kooperierenden brasilianischen Sozialagentur gelang es, das Refettorio Gastromotiva in eine fest etablierte Einrichtung zu verwandeln. „Alleine im Februar 2017 konnten wir 1200 Bedürftige versorgen – und das ausschließlich mit der Überschussware des Supermarktlieferanten Benassi. Aber bei all dem: Es geht nicht einfach darum, Essen zu servieren. Im Refettorio werden Workshops angeboten und Weiterbildungen. Junge Kochtalente haben die Möglichkeit, hier eine erste Arbeitsstelle zu finden, die sie aus den Favelas in eine feste Anstellung bringen kann.“
Das nächste Refettorio wird im Juni in London eröffnen und trägt den Namen Felix. Ambitioniertes Ziel: Während des Food Month wird die Ausspeisung von Montag bis Freitag Lunch servieren, und zwar sollen dabei mehr als 2000 Essen aus fünf Tonnen Überschussware generiert werden.
Massimo, die Frauen und der Käse
Aber warum macht Massimo Bottura all das? Fürs Karma oder doch fürs Ego? Den sozialen Ausgleich nach Karl Marx strebt er offensichlich nicht an. Denn Bottura umgibt sich selbst gerne mit Luxus – oder, wie er es nennt, mit Produkten von traditionellen italienischen Handwerksbetrieben auf Spitzenniveau.
Die Welt kennt diese unter den klingenden Namen Maserati, Bottega Veneta oder Gucci. Für Letztere ist er der Catering-Partner Nummer eins und gern gesehenes Testimonal der Marke. „Unverwechselbarkeit, das ist es, was Alessandro Michele mit seiner Mode für Gucci geschaffen hat. Und genau das ist meine Erwartungshaltung – an mich und meine Umgebung.“ Unverwechselbar ist ebenso seine nachtschwarze Ducati Diavel. Beide zusammen haben in Modena, der Geburtsstadt Botturas, beinahe schon Legendenstatus.
Es ist die Sache an sich, von der Massimo Bottura überzeugt ist. „Der Küchenchef der Zukunft muss großes Verantwortungsbewusstsein besitzen. Er ist und wird vielmehr sein als die Summe seiner Rezepte.“ Wäre Massimo Bottura eines seiner Gerichte, dann wohl am ehesten die „Five Ages of Parmesan“.
Oberflächlich betrachtet ist es ausschließlich Käse in seinen unterschiedlichen Texturen, so wie Massimo einfach nur ein verdammt guter Koch ist. Aber beginnt man, genauer hinzusehen, so wird einem die Vielschichtigkeit beider bewusst. So wie das Gericht, das ursprünglich eine Hommage an Alain Ducasse’ „Drei Texturen und Temperaturen von Parmigiano Reggiano“ sowie die Emilia-Romagna war, war Massimo Bottura in den späten 80ern ambitioniert und gewillt, der Welt zu zeigen, was in ihm steckt.
Das Jusstudium hatte er abgebrochen, den ersten Gastropub, eine ehemalige heruntergekommene Trattoria am Stadtrand von Modena, von einem Truck-Stopp zu einem Lokal für Studiosi und Freunde der experimentellen Küche eines unerfahrenen Kochs umgewandelt. Alles lief unaufregend. Bis Lidia kam.
Lidia Cristoni besitzt das Feld neben Botturas Trattoria Campazzo und durch sie „hat mich Essen gefunden“. Die kleine Frau bringt ihm bei, was Pasta ist, was Pasta bedeutet, wird seine erste professionelle Mentorin in Sachen Kochen – den Grundstein legten seine Großmutter und seine Mutter.
Jedoch: „Alles, was ich erreicht habe und bin, das hat in Lidias Pasta seinen Ursprung. So wie wir beide im Campazzo gearbeitet haben, mit so viel Courage, so viel Liebe.“ Aber Lidia ist mehr als eine Erinnerung an früher. Noch heute ist es für jeden Stagiaires Pflicht, bei Signora Cristoni einzukehren und Tortellini zu rollen. „Die Leute kommen aus aller Welt und möchten Destillate herstellen, Essenzen, meine Philosophie verstehen. Aber sie können keine Pasta machen und das ist es, was sie lernen müssen.“
Massimo entwickelt sich durch Lidia weiter, geht nach New York – genauso wie das „Five Ages of Parmesan“ nicht dasselbe Gericht bleibt. Zu der Creme, dem heißen Soufflé und der knusprigen Waffel kommt nun ein luftiger Schaum. Am ersten Abend, an dem das Gericht so serviert wird, ist Umberto Panini, ehemaliger Sticker- und jetziger Parmesanhersteller, Gast und setzt Massimo eine neue Idee in den Kopf. Warum nur die Textur verändern sondern auch das Alter des Käses an die Textur anpassen?
In New York lernt Massimo Bottura die nächste Frau kennen, die sein Leben bis heute verändert: Lara Gilmore. Sie ist es, die ihm zeitgenössische Kunst näherbringt. Heute gilt Bottura als einer der interessiertesten Kenner und auch als ambitionierter Sammler von Werken von Joseph Beuys, Maurizio Cattelan, Damien Hirst oder dem britischen Künstler Gavin Turk. Seine Leidenschaft beschränkt sich aber nicht auf optische Kunst, seine Vinylplattensammlung beträgt mittlerweile an die 12.000 Stück.
„Kunst ist der Ansporn meiner Kreativität.“ Sich selbst aber als Künstler zu bezeichnen, das würde er nicht machen. Die Begründung dazu ist lächerlich einfach: „Ein Künstler kann sich in jeder Form ausdrücken, die ihm gerade einfällt. Ein Handwerker aber, der muss in seiner Zunft versuchen, das Beste aus sich herauszuholen. Ein Koch etwa muss gutes Essen auf den Tisch bringen.“ Wobei er sich in dieser stringenten Logik allerdings selbst widerspricht. „Ich koche nicht, um gutes Essen auf den Tisch zu bringen. Das interessiert mich nicht, das ist es, was meine Mutter macht. Wir komprimieren Leidenschaft in essbare Bissen. Nur in der Landschaft herumrennen und Pflänzchen pflücken und diese dann zu hacken, zu verarbeiten und auf den Tisch zu bringen, das kann es nicht sein. Da muss mehr dahinterstecken.“
In den Augen und Gaumen der Kritiker steckt in der Küche von Bottura sehr viel. Seit Jahren rangiert er auf den Bestenlisten ganz oben, war 2016 als bestes Restaurant der Welt ausgezeichnet, 2017 ist es der zweite Platz. Die Osteria Francescana ist seit 2011 mit drei Michelin-Sternen ausgezeichnet. Massimo Bottura hat das geschafft, was wenige vorher gewagt haben: die Rekonstruktion der italienischen Küche, ohne die Tradition dabei zu demontierten oder sich von ihr versklaven zu lassen.
„In Italien sitzen wir auf einer jahrhundertealten Tradition, aber wer sie lediglich kopiert, der produziert Nostalgie und keine Zukunft. Ich besitze eine Glasvase, in der bewahre ich meine Großmutter auf. Und die Großmutter ihrer Großmutter – damit ich nicht vergesse, was sie uns gelehrt haben.“
Was ein wenig sonderbar klingt, ist in Wahrheit eine zeitgenössische Installation des chinesischen Aktivisten und Künstlers Ai Weiwei. Dieser füllte das Glasgefäß mit zermahlenem Staub einer 2000 Jahre alten chinesischen Vase. „Die Tradition, die Vergangenheit ist da, aber sie definiert mich nicht jetzt, sondern meine Zukunft wird meine Vergangenheit.“
Lernen von den Besten wie man zum Besten wird
Die Kochpersönlichkeit Botturas wurde dabei definiert von zwei Granden und Genies der heutigen Zeit: Alain Ducasse und Ferran Adrià. Die Begegnung mit dem Grand Chef de la France war eine zufällige. Er kam 1992 einfach zum Essen in die Trattoria Campazzo und lud Massimo Bottura daraufhin zu sich in das Louis XV in Monte Carlo ein. Von ihm lernte Bottura Selbstbewusstsein am Teller. „Er nahm meine Notizen, zerriss sie und lehrte mich, für meine Ideen einzustehen. Das war der Moment, in dem ich lernte zu denken.“
Ducasse ist aber ebenso beeindruckt von seinem neuen Eleven – bis heute: „Massimo ist unverzichtbar für unsere Zeit. Talentiert, großzügig, psychedelisch, hedonistisch, flamboyant … Ganz tief verwurzelt in der Erde seiner geliebten Emilia-Romagna und mit seinem Kopf in der Zeitmaschine ins Morgen.“
Das letzte Rüstzeug, um der Massimo Bottura zu werden, den die Welt nun kennt, gab Ferran Adrià auf den Weg mit: „ Das, was die wenigsten Menschen verstehen, ist, dass er uns die Freiheit gegeben hat, uns am Teller ausdrücken zu dürfen. Es muss nicht der Hummer oder der Kaviar sein. Eine einfache Kartoffel in der richtigen Weise zubereitet kann zu einem emotionaleren Ergebnis führen.“
Und bei Gott – zu dem Bottura nach dem Tod seiner Mutter zurückgefunden hat, zumindest zum Glauben –, Bottura macht alles, um aus seinen komprimierten essbaren Bissen Erinnerung Emotionen zu kreieren. Doch anders als etwa Heston Blumenthal in der Fat Duck versucht er nicht, seine persönliche Erinnerung auf ein allgemein verständliches Breite-Masse-Spektrum herunterzubrechen. Für Massimo wäre das, wie dem Druck der Konformität nachzugeben.
Kunst ist der Ansporn meiner Kreativität.
Und das macht er nicht. Niemals. Auch nicht, als er 1995 vollgesogen mit Wissen und frisch verliebt die Osteria Francescana in der Via Stella 22 eröffnet – und der Laden einfach nicht und nicht läuft. Das junge Ehepaar veräußert alles: Auto, Motorrad – alles, um überleben zu können. Nur durch den Export von Aceto Balsamico kann er die Zeit durchstehen.
Heute ist die Osteria jeden geöffneten Tag ausgebucht. Zwölf Tische, 28 bis 30 Couverts und 40 Mitarbeiter. Das Blatt hat sich gewendet. Massimos Ideen werden größer, globaler. Expansion nach Dubai, die „Food for Soul“-Bewegung. Bottura am Zenit? „Im Moment fühle ich, dass es die richtige Zeit, das richtige Alter und der richtige Ort ist. Früher wäre ich dafür nicht bereit gewesen.“
Und so wie sein Schöpfer hat sich das mittlerweile 20 Jahre alte Parmesan-Gericht noch einmal 2011 verwandelt. Die vier Parmesankomponenten wurden durch eine fünfte ergänzt und in ihrem Alter verändert: 24 Monate gereifter Parmesan als heißes Demi-Soufflé, 30 Monate gereifter Parmesan als samtige Sauce, 36 Monate gereifter Parmesan als geschüttelter und siphonierter gekühlter Schaum, 40 Monate gereifter Parmesan als hauchzarte, knusprige Waffel vollendet mit der Metamorphose des 50 Monate gereiften Parmesans zu einem intensiven Sud, der in einer Wolke von Waben aufgeschlagen wird.
Ob „Five Ages of Parmigiano Reggiano in different temperatures and textures“ sich im Laufe der Zeit weiterverändern wird, davon kann man ausgehen. So wie sich Massimo Bottura weiterentwickeln wird. Noch komplexer in seiner kulinarischen Sprache zu werden und doch verständlicher zu wirken.
„Entweder man versteht meine Gerichte und damit mich. Oder nicht. Es gibt kein Dazwischen. Ich frage mich jeden Tag, was ich in der Küche mache. Und aus diesen Fragen entstehen Antworten, die zu weiteren Fragen führen. Und das ist der Schlüssel zum Erfolg.“
www.osteriafrancescana.it