Vegan For Dummies
Körnchenfrass für Ökospinner. So in etwa lautete noch vor einigen Jahren das Fazit der Mitte der Gesellschaft über Veganismus. Heute ist das bekanntlich anders. Ganz anders.
Körnchenfrass für Ökospinner. So in etwa lautete noch vor einigen Jahren das Fazit der Mitte der Gesellschaft über Veganismus. Heute ist das bekanntlich anders. Ganz anders.
Aus dem Nischentrend für Sonderlinge wurde das neue Normal für das Bürgertum. Vegan essen, das gebietet eigentlich der Anstand, finden immer mehr Menschen. Ganze 1,3 Millionen Veganer soll es heute in Deutschland geben, Tendenz steigend. Das entspricht einem jährlichen Wachstum von 15 Prozent seit dem Jahr 2010. Bezeichnend dabei: Über 60 Prozent der Veganer geben als Hauptbeweggrund für ihre Ernährungsweise Tierschutz an. Und: Über die Hälfte aller Veganer ist zwischen 20 und 39 Jahre jung. Hardfacts, die die Lebensmittelindustrie träumen lassen von Fleischersatzprodukten, nach denen sich kommende Generation verzehren werden.
Verjus ist meine Zitrusfrucht.
Ricky Saward über seinen Lieblingssäuregeber in der veganen Küche
Doch auch die Spitzengastronomie nimmt den Trend rund um den pflanzlichen Ernährungskodex auf. Da wurde beispielsweise eines der weltweit berühmtesten Drei-Sterne- Restaurants „plant based“: Im Mai dieses Jahres verkündete Daniel Humm aus dem legendären Eleven Madison Park in New York, wie augenscheinlich es sei, „dass das derzeitige Lebensmittelsystem in vielerlei Hinsicht einfach nicht nachhaltig ist“. Weltweit sprießen außerdem vegane Gastrokonzepte wie Pilze aus der Erde. Und in Frankfurt am Main wurde im Guide Michelin 2020 das erste vegane Restaurant mit einem der prestigeträchtigen Sterne ausgezeichnet – eine weltweite Premiere, die dem jungen Küchenchef Ricky Saward einen Eintrag in die kulinarischen Geschichtsbücher des Landes sicherte.
Und die in absehbarer Zukunft auch immer mehr Gastronomen dazu bringen wird, sich aktiv für oder gegen ein dezidiert veganes Angebot zu entscheiden. Die Frage wird also immer drängender: Was braucht es für gute vegane Küche? Welche Lebensmittel können als genauso zeitgemäße wie vielversprechende Basis dienen?
Was ist mit der Karotte?
Fragen, die für den ersten veganen Sternekoch der Welt – denn nichts anderes ist Ricky Saward schließlich – gar nicht so einfach zu beantworten sind. „Es kommt eben auch stark auf die Saison an“, so der Küchenchef des Seven Swans. Und spricht damit eine Sache an, die über das rein vegane Mindestmaß der Verwendung pflanzlicher Produkte hinausgeht. Denn dadurch, dass Veganismus – sprich: das vegane Kochen und Essen – oft einem moralisch-ethischen Wertekodex unterliegt, geht es um mehr als nur um plant based. Es geht um Regionalität, um Transparenz, darum, dass ein Lebensmittel nicht zum bloßen Produkt problematischer Strukturen wird, ob es jetzt um Pestizide geht oder um ausbeuterische Arbeitsbedingungen von Erntehelfern. Ricky Saward jedenfalls kocht großteils saisonal und gewährt die makellose Transparenz seiner verwendeten Lebensmittel durch eine hauseigene Permakultur im 20 Kilometer entfernten Bad Homburg.
Das kann sich nicht jeder (Sterne-)Koch oder Gastronom leisten. Doch die regional-saisonale Beschaffung von Lebensmittel, die veganer Küche zusätzliche Glaubwürdigkeit verleiht, kann sich auch auf eine beachtliche Zahl in einem engmaschigen Netz engagierter Bio-Bauern verlassen. Dass deren Erzeugnisse mehr kosten als die vom Großhandel, versteht sich von selbst. Doch letztlich ist der Wareneinsatz bei vielen pflanzlichen Produkten auf den ersten Blick erstaunlich attraktiv, zumindest im Vergleich zu (vermeintlichen?) Luxusprodukten aus den tierischen Sphären wie Kaviar, Kobe oder Gänsestopfleber.
Viele Leute glauben, das sind echte Oliven.
Für Ricky Saward ist der Alleskönner Vogelkirsche eine sichere Bank
Wer Ricky Saward über die Schulter schaut, dem wird jedoch schnell klar, dass der Aufwand vielmehr in der Zubereitung liegt. Denn während ein sündhaft teures Kobe-Entrecôte lediglich kross angebraten wird oder ein Löffel Kaviar in Sekundenschnelle angerichtet ist, gelten für Produkte wie Sellerie, Lauch oder Vogelkirsche andere Zubereitungszeiten. In Sawards Seven Swans wird Rote Bete beispielsweise monatelang im Keller getrocknet, Kernobst drei Monate bei 60 Grad gegart und Einkorn über Tage hin in Miso verwandelt. „Was machen denn die meisten Köche mit Fisch und Fleisch?“, fragt Saward provokant. „Er hängt es kurz ins Wasserbad, brät nach und erntet draußen die Lorbeeren, wenn es ein gutes Produkt ist. Aber den möchte ich sehen, wenn ich ihm eine Karotte frisch aus der Erde in die Hand drücke und sage: ‚Mach mal!“
So nah und doch so fern
Das erste vegane Basisprodukt, das Saward in den Sinn kommt, überrascht: „Verjus ist das allerwichtigste in meiner Küche. Es ist ein großartiger Säuregeber und eigentlich ein supersimples Produkt. Es ist keine spitze Säure, sondern eine sehr smoothe, weiche. Du kannst sie sehr vielfältig einsetzen, ob du jetzt eine Sauce machst, für die du einen Schuss Säure brauchst, oder im Dessertbereich – es funktioniert unheimlich gut. Wir hatten auch schon einmal ein Verjus-Sorbet. Es ist, wenn man so will, unsere Zitrusfrucht.“
Weitere Alternativen für den Säurekick finden sich in unseren Breiten quasi auch vor der Haustür, wie Saward betont: „Gerade jetzt im Winter geht es mit den Chinesischen Zierquitten wieder los. Die wachsen überall wild an kleinen Sträuchern. Sie sind knüppelhart und groß wie Limetten. Die Säure ist aber viel spitzer und aggressiver. Deswegen ist und bleibt Verjus mein absoluter Favorit.“
Auch im süßen Register zeigt Saward, dass gute, nachhaltige Lebensmittel direkt vor der Tür wachsen: Wenn im Frühling alles sprießt, stürzt sich der vegane Sternekoch auf die unreifen Kiefernzapfen, von denen es in Deutschland genauso wie in Österreich bekanntlich ausreichend gibt. „Die sind sehr harzig und weich und nur so groß wie ein halber Daumen. Einerseits fermentiere ich sie, andererseits mach ich daraus aber auch einen Sirup. Dafür lass ich sie im Verhältnis 50 zu 50 in Zuckerrübensirup drei Tage bei 90 Grad simmern. „Sirup und Zapfen sind dann pechschwarz. Aber die Zapfen haben neben der harzigen Note eine unglaubliche Frische, daneben auch Anis.“
Fest steht: Wer Ambitionen für qualitativ hochwertige vegane Küche hegt, sollte, bevor er sich in sozialen Netzwerken oder Onlineshops auf abgefahrene Superfoods aus allen Ecken der Welt stürzt, zuerst einmal die Augen öffnen. Das Gute und Unentdeckte, auch das sagt uns die vegane Küche, liegt näher als wir denken.