Erde, Holz & Harz: Neue Delikatessen
Am Wochenende freut sich Emile van der Staak schon auf Montag. Denn zu Wochenbeginn schnappt er sich früh sein Fahrrad und radelt die paar Kilometer zu seinem Wald, seinem „Food Forrest“, wie er ihn nennt. „Das ist aber kein klassischer Wald, in dem ich Zutaten für meine Gerichte suche“, fügt der aktuell vielleicht spannendste vegane Koch Europas schnell hinzu, um Missverständnissen vorzubeugen.
Am Wochenende freut sich Emile van der Staak schon auf Montag. Denn zu Wochenbeginn schnappt er sich früh sein Fahrrad und radelt die paar Kilometer zu seinem Wald, seinem „Food Forrest“, wie er ihn nennt. „Das ist aber kein klassischer Wald, in dem ich Zutaten für meine Gerichte suche“, fügt der aktuell vielleicht spannendste vegane Koch Europas schnell hinzu, um Missverständnissen vorzubeugen.
Sein Wald ist von Hand selbst angelegt, sodass er stets weiß, was wo wächst und wie man es verwenden kann. „Derzeit liegt unser Fokus auf dem Szechuan-Pfeffer“, sagt der Pionier der pflanzenbasierten Küche. Bevor wir aber gleich ins Detail gehen, müssen wir erst verstehen, was es mit diesem künstlich angelegten Food Forrest wirklich auf sich hat. Denn eines gleich vorweg: Er ist etwas ganz Besonderes!
„Der Wald ist für mich pure Entspannung“, beginnt Emile van der Staak zu erzählen. Vor 15 Jahren war hier, wo heute der Wald steht, nur ein schlichtes Feld – Monokultur. Bis sein Freund Wouter van Eck vor 15 Jahren den Plan entwickelte, auf diesen 2,5 Hektar Fläche einen Wald anzulegen, der sich selbst versorgt.
Ähnlich den Systemen, die wir in Österreich unter dem Begriff Permakultur kennen, konzipierte er eine Art Parallelwelt, die so gesund ist, dass sie sich gegenseitig konstant nährt, ein gut durchdachtes System, das einen natürlichen Wald nachahmt und auf essbaren mehrjährigen Pflanzen statt auf traditionellen einjährigen Kulturen basiert.
Wouter van Eck bezog dabei einen Aspekt ein, der auf den ersten Blick unlogisch wirkt: Er pflanzte Obst- und Baumsorten an, die eigentlich in den Niederlanden gar nicht gedeihen! Deshalb kann Emile van der Staak heute nicht nur Szechuan-Pfeffer aus dem Zauberwald holen, sondern auch Zitronen und viele andere exotische Früchte. „Wenn man weiterdenkt, ist das aber gar nicht so unlogisch“, sagt der Experte. Die Niederlande liegen in der sogenannten Klimazone sieben, was bedeutet: Durch die direkte Lage an der Nordsee herrscht dort ein gemäßigt maritimes Klima.
Die Freude an der Klimazone
„Wir können bei uns also alles pflanzen, was sonst auf dem Planeten Erde in dieser Klimazone wächst“, so van der Staak. Dabei geht es nicht nur um Zitronen oder Feigen, sondern auch um die japanische Nashi-Birne, eine Frucht, die Emile van der Staak aktuell besonders verehrt: „Es gibt so viele unterschiedliche Arten, und jede Sorte liefert einen individuellen Geschmack“, erzählt er.
Eine Art schmecke nach Pudding, die andere eher schokoladig. Doch das wirklich Faszinierende ist, dass er diese Früchte in seinem eigens konzipierten Wald, nur wenige Kilometer von seinem Restaurant „De Nieuwe Winkel“ in Nimwegen entfernt, erntet. Aus dieser Gegebenheit entwickelte sich seine heute international berühmte „Botanische Gastronomie“.
Das Moor Als Supermarkt
Auch Stefan Wiesner kennt diesen Luxus. Nahezu jeden Tag stapft der ungewöhnliche Sternekoch, den viele „Hexer“ nennen, von seinem Restaurant „Wiesner Mysterion“ im schweizerischen Romoos los. Direkt hinein in das Entlebucher Moor, eines der wenigen noch intakten Zittermoore Europas. Heute dürfen wir ihn begleiten und treffen ihn in seiner „Hexenbleibe“ am Waldesrand. Die Luft ist hier irgendwie anders: wohlig dick, stofflich.
Torferde lässt sich zu Pralinen oder Pürree verarbeiten!
Stefan Wiesner betritt gern kulinarisches Neuland
Jeder Atemzug hat einen eigenen Geschmack. Und das liegt nicht an der beeindruckenden Historie des alten Gemäuers, sondern an den vielen Kostbarkeiten, die hier lagern und ihre Duftnoten verbreiten: 14.000 Jahre altes Holz, das im nahen Moor die Zeiten überdauert hat, Heu von den zerklüfteten Karstgipfeln der Schrattenfluh, dunkle Kohlestücke, rostige Nägel, schimmernde Edelsteine, bunte Pulver und hunderte Flakons mit Flüssigkeiten, deren Namen nur Stefan Wiesner kennt. Der Koch hat sich dadurch einen Namen gemacht, dass er altes Wissen wieder aufgreift, um ungewöhnliche Gerichte auf Sterneniveau zu entwickeln, die allesamt dem Moor entspringen. Da landet schon mal Torferde in der Suppe oder Steingranulat auf dem Teller. Gut möglich, dass das Steak in Ameisensäure gebeizt wurde oder ein Destillat der Birkenrinde den Genießer vor ein geschmackliches Rätsel stellt.
„Avantgardistische und archaische Naturküche“ nennt der Meister seine Kulinarik, die er aktuell zur „Ayurvedischen Naturküche“ weiterentwickelt, inklusive Kochbuch. Was aber darf man sich darunter konkret vorstellen? Jedenfalls Überraschungen auf jeder Seite, und die erste Kostprobe steht bereits in all ihrer Pracht vor uns: Ein schwarz-weiß gefleckter Baum ragt etwas knorrig und schief aus dem weichen Moorboden. „Von der Birke kann man eigentlich alles essen“, erklärt Wiesner und entführt uns ins „Leaf to Root“-Thema, also die vegetarische Variante des „Nose to Tail“-Prinzips. Die Rinde lässt sich verkochen oder destillieren.
Die Holzkohle der Birke verarbeitet er zu Senf, und der Birkensaft ist ein vielseitig verwendbares Elixier. „Richtig angezapft, kann ein Baum in einer Nacht zehn Liter davon liefern“, so der Hexer. „Außerdem wirken die Inhaltsstoffe der Birke desinfizierend.“ Ein kleiner Trick: Mit feiner Birkenholzwolle kann man anderen Produkten Vanillegeschmack verleihen – ganz ohne teure Vanilleschoten!
Mehr Pflanzen, weniger Fleisch
Wo wir gerade bei ungewöhnlichen Aromen sind – ein Ameisenhügel fällt dem Hexer ins Auge. Schon herrscht Aufregung unter den kleinen roten Tierchen – der Moormeister hat ein blitzsauberes Tuch auf ihr Zuhause gedrückt. „Jetzt sondern die Ameisen ihr Sekret darauf ab“, erklärt er, wendet das Tuch und drückt es erneut sanft auf den Hügel.
Ein Dutzend Mal wiederholt er die Prozedur, ehe er das säuerlich riechende Tuch in einer kleinen Dose verstaut. Einerseits kann man bei Schnupfen daran riechen, um die Atemwege freizumachen. Ein Naturkoch legt das Tuch jedoch ins Joghurt, das die Säure aufnimmt und sich dann als Marinade für Fleisch oder Fisch eignet. Nur: Mit den Ameisen selbst will Wiesner nicht unbedingt kochen – zu viele Tiere müssten sterben, da hat er Skrupel. Auch wenn er nicht völlig auf Fleisch verzichtet, hält es der Hexer im Grunde nicht viel anders als sein niederländischer Kollege Emile van der Staak. Der Grundsatz des Zweisternekochs lautet schlicht und einfach: „Mehr Pflanzen, weniger Fleisch.“
Wie man Erde essen kann
Es ist schon viele Jahre her, als Stefan Wiesner von einem befreundeten Botaniker erfuhr, dass man Torf aus Mooren essen kann. „Wichtig ist, dass er wirklich sauber ist, und das ist er ab einem Meter Tiefe.“ Schon macht er sich mit seinem Spaten an die Arbeit, und wenige Augenblicke später hält er feinste Torferde in Händen. Ihr Geschmack: fast neutral. Ihre Konsistenz: wie eine feine Schokotrüffel, ohne Schokolade drinnen.
„Torf hilft unserem Körper dabei, basisch zu bleiben oder zu werden“, lernen wir. Und auch, dass man damit ganz wunderbar Schweinefilets räuchern kann. Oder mit fermentierten Schwarzwurzeln ein Püree zubereiten, das aktuell in seinem Restaurant für Furore sorgt. Wichtig beim Kochen mit Torf ist, dass man diesen stets vor dem Verarbeiten pasteurisiert, mahnt der Hexer noch, bevor die Lehrstunde weitergeht.
Denn wenn der Mann einmal in Fahrt ist, sprudelt es nur so aus ihm heraus: „Steine stehen bei mir genauso auf der Liste liebster Zutaten“, sagt er also. Aktuell hat es ihm vor allem Marmor angetan. Und auch hier erschließt sich seine Überlegung erst auf den zweiten Blick: „Wir malen den Marmor ganz fein, dann kann man ihn wunderbar weiterverarbeiten. Zu Strudelteig etwa“, sagt Wiesner. Tatsächlich schmeckt Marmor anders als etwa Stein mit einem hohen Eisenanteil, sagt der Hexer.
Aber was schmeckt man hierbei eigentlich wirklich? „Im Grunde passiert das Gleiche wie bei Mineralwasser. Auch darin sind Stoffe gelöst, die unserem Körper guttun und eigenen Geschmack entwickeln.“
Was auch bedeutet, dass wir der Beschaffenheit und den Nuancen unseres Wassers mehr Beachtung schenken sollten, ist Wiesner überzeugt. „Eine Quelle ist schwefelhaltiger, die andere führt mehr Kalk mit sich. Das macht alles etwas mit dem Geschmack des Wassers und bedeutet, dass wir mit hunderten von verschiedenen Wassern arbeiten könnten.“ Allein, das sei seiner Wahrnehmung nach vielen Köchen nicht bewusst.
„Wenn ich mit Produkten aus dem Moor arbeite, dann nehme ich Moorwasser. Und wenn ich eine Forelle verarbeite, wähle ich Quellwasser“, liefert Wiesner sogleich Beispiele, um anschließend zu einem seiner liebsten Themen zu schwenken: der Holzkohle. Während wir sie in der Regel als Lieferant von Röstaromen und als Heizmittel wahrnehmen, versteht sie der Schweizer Koch vielmehr als Grundnahrungsmittel.
So nutzt er aktuell die fein geriebene Kohle von Buche und Fichte für eine Marinade seines Rehgangs. Philosophischer Hintergrund: „Das Reh frisst die Fichte und am Ende führe ich beides wieder auf unserem Teller zusammen.“
Neue Produkte dank neuer Möglichkeiten
Ein Gericht, das bereits unter dem Ayurwedischen Aspekt, den Stefan Wiesner aktuell verfolgt, entstanden ist. Dabei eint der Hexer altes Wissen aus Asien mit den Produkten aus dem Alpenraum. Ein Unterfangen, das gar nicht so viele Ersatzprodukte benötigt, wie man vielleicht glauben möchte. „Sehr viele exotische Pflanzen wachsen längst hier in unseren Breiten“, sagt Wiesner. Und damit schließt sich auf gewisse Weise der Kreis zu seinem niederländischen Kollegen Emile van der Staak. Beide greifen in ihrer Küche heute auf Früchte und Produkte zurück, die noch vor zwei Jahrzehnten keine Rolle in unseren Breiten gespielt haben.
Beide aber nutzen regionale Erzeugnisse und setzten keineswegs auf internationale Lieferketten. Besonders spektakulär das Pendant von Emile van der Staak zur Birke, die Stefan Wiesner so gerne verarbeitet: der Chinesische Mahagoni, auch Surenbaum genannt. „Dieser Baum liefert nicht nur wunderschöne rosafarbene Blätter, die man als Chef sehr gerne als Dekoration verwendet. Die Blätter haben vor allem einen unglaublich hohen Proteinanteil von 16 Prozent.“ Zum Vergleich: Fleisch hat einen Eiweißgehalt von ungefähr 21 Prozent, also nur unwesentlich mehr.
Aus dem Holz selbst kocht Emile van der Staak heute eine Brühe, die einer Hühnersuppe sehr nahe kommt. „Wir haben lange daran gefeilt, es kommt auf die richtige Temperatur und die Dauer an, mit der wir das Holz kochen, jetzt aber kann man den Geschmack der Suppe fast nicht mehr von einer echten Hühnersuppe unterscheiden.“ Apropos Überraschungen: Wenn die Blätter dieses Baums noch grün und jung sind, schmecken sie ohne großes Zutun nach französischer Zwiebelsuppe. Und das so eindeutig, dass er zum Chinesischen Mahagoni anfing, „French Onion Soup Tree“ zu sagen. „Das ist fast schon eine Beleidigung an jeden Koch“, sagt Emile und schmunzelt.
Erst am Anfang einer langen Reise
Eines machen diese beiden ungewöhnlichen Chefs jedenfalls mehr als deutlich: Wer sich intensiv mit den Produkten befasst, die bei uns gedeihen, kann nach wie vor viele neue Aromen und Geschmäcker entdecken. Und wer bei diesem Tun über den Tellerrand blickt, wer große Zusammenhänge erfasst, dem gelingt es tatsächlich, eine Küche zu entwickeln, die mit Produkten arbeitet, die man eigentlich gar nicht in unseren Breiten suchen würde.
In Summe bedeutet das wohl auch, dass wir gerade, was die pflanzenbasierte Küche betrifft, erst am Anfang einer spannenden Reise stehen. Einer Reise, die, wie sich Emile van der Staak und Stefan Wiesner einig sind, „nicht einfach ist, aber einfach wunderschön“. Für die Köche, aber auch für die Gäste.