Testkitchen

Kostspielig, aber elementar: wie die weltbesten Kreativbrutstätten funktionieren. Ein Blick in die Zukunft des Kochens.
November 13, 2015

elementare TestkitchenFotos: Adam Mørk/noma

Langsam wird es fast schon langweilig, aber: Die Antwort auf die Frage „Wer hat’s erfunden?“ lautet auch diesmal wieder „Ferran Adrià“. Ganze 14 Jahre ist es mittlerweile her, dass Herr Adrià zur Abwechslung wieder einmal aus der Zukunft kam und befand, dass es sich in der Küche seines legendären Restaurants elBulli vortrefflich arbeiten, aber nicht ganz so gut nachdenken lässt. Die Tore des elBulli blieben daraufhin sechs Monate im Jahr geschlossen, Küchenchef und Kreativteam verzogen sich nach Barcelona, in ein Gebäude aus dem 18. Jahrhundert in einer ruhigen Seitenstraße, und – dachten nach. Schleppten Geräte mit unaussprechlichen Namen aus diversen Labors an. Klebten die Wände mit Hunderten Zettelchen voll. Zeichneten sich die Finger wund. Nun gut: Nicht nur Rom, auch Olivensphären und flüssige Ravioli wurden eben nicht in einem Tag erbaut …
2014 ist elBulli Geschichte und in Ferran Adriàs
Taller, was übersetzt Werkstatt bedeutet, wird nicht mehr an Sphären, sondern an Adriàs Monster-Online-Epos Bullipedia gearbeitet. Auf den Zetteln an der meterhohen Pinnwand sind jetzt Strukturbäume abgebildet, User-Interface-Designer und Webentwickler tummeln sich im Konferenzraum des Taller, während Adrià in der Küche darüber nachdenkt, ob es vielleicht doch irgendeinen guten Grund geben könnte, warum Sardinen und weiße Schokolade nicht zusammenpassen sollten.

Jedem sein Testgelände
Ob man es nun Labor, Küche, Wohnzimmer oder Testgelände nennt – die Idee hinter der Etablierung von Testküchen ist klar: Ändert sich die Umgebung, ändert sich auch das Denken. Zwischen Mittag- und Abendservice bleibt in Michelin-Stern-Küchen de facto kein Platz für Kreativität und Muße, und komplex aufgebaute Gerichte und Menüs wollen nicht einfach gekocht, sondern entwickelt werden. In den letzten Jahren hat sich eine ganze Reihe hochdekorierter Küchenchefs dazu entschlossen, Arbeits- und Denkraum voneinander zu trennen, und Testküchen eingerichtet, die – je nach Ziel und Anforderung – mal echtes, mal pseudo-akademisches Labor, Küche oder Chef’s-Table-Hybrid sind.

Wer angst davor hat, zu scheitern, braucht erst gar keine Testküche einzurichten.
David Chang über den Mut zum Fehler

Die Akademiker David Chang
Im Kopenhagener Nordic Food Lab rund um Forschungs- und Entwicklungschef Ben Reade, der Modernist Cuisine Test Kitchen, Heston Blumen-thals Fat Duck Lab sowie im Momofuku Culinary Lab von Multi-Gastronom David Chang wird nicht nur an neuen Gerichten gearbeitet, sondern auch Forschung betrieben. Das Momofuku Culinary Lab arbeitet gemeinsam mit Wissenschaftlern der Universität Harvard aktuell an der Herstellung neuer Umami-Geschmäcke mithilfe von Schimmel und speziellen Mikroben, die Pistazienmiso und Cashew-Tamari zu aromatischen Höhenflügen verhelfen sollen. Bei aller Liebe zur akademischen Errungenschaft profitieren aber natürlich auch Changs Betriebe vom Treiben im Lab. Sie können auf neue Rezepte und Entwicklungen zurückgreifen oder Aufträge für spezielle Gerichte an das Labor vergeben. „Im Vergleich zum Modernist Cuisine Lab ist unsere Testküche aber kein ausgewiesener Spielplatz für Nerds“, erklärt Dan Burns, oberster Miraculix des Momofuku Culinary Lab. „Wir haben keine Hightech-Zentrifugen, und wenn wir aus Erdbeerkelchblättern mit einer Schüssel und einem Rührgerät eine neue Komponente entwickeln können, dann ist das doch eine gute Sache – denn dann können die Küchenchefs das in den Restaurants auch leichter umsetzen.“ Am anderen Ende des großen Teichs, in Kopenhagen, ist die Entwicklung von Gerichten tatsächlich maximal zur Nebensache geworden. Ben Reade, der das rund um die noma-Clique 2008 gegründete Nordic Food Lab in Kopenhagen als kulinarischer Forschungs- und Entwicklungschef leitet, beschäftigt sich momentan sehr intensiv mit der kulinarischen Beziehung zwischen Insekten und Menschen – Stichwort Käfer –, aber maximal eines der täglich getesteten Gerichte wird überhaupt in die nächste Testrunde geschickt. Noch geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass Käfer à la Nordic Food Lab überhaupt irgendwo auf einem Fine-Dining-Teller landet. Böse Zungen behaupten, das Lab sei mittlerweile keine kreative Keimzelle der modernen nordischen Esskultur mehr, sondern Entwicklungslabor für die Lebensmittelindustrie. Ben Reade unterstreicht dennoch den Open-Source-Gedanken hinter dem Nordic Food Lab: „Es gibt nur sehr wenige Kulinariklabore auf der Welt, die etwas Ähnliches machen. Viele Toprestaurants haben Testküchen, und das ist okay, denn dort entstehen brillante Gerichte für die Restaurants. Aber das sind wir definitiv nicht. Wir sind eine Non-Profit-Plattform, und jeder kann von unseren Forschungen profitieren.“ Nur mal kurz die Welt retten also.

Menüentwicklung in der Testkitchen

Die Tüftler
In Andoni Luis Aduriz’ zweifach sternegekröntem Restaurant Mugaritz liegt der Fokus, ganz im Geiste Ferran Adriàs, auf der Menüentwicklung. Seine erste Testküche richtete Aduriz 2004 ein, die heutige Version ist ein hochmoderner Arbeitsraum, in dem ein Team aus zehn Köchen eng mit Wissenschaftlern und Künstlern zusammenarbeitet. Im Fokus stehen lokale Produkte und deren Weiterentwicklung. Mugaritz-Food-Entwicklungschef Dani Lasa nennt seinen Arbeitsraum gerne „einen Ort, an dem man menschliche Verhaltensweisen im kreativen Kontext studieren kann“. Kollege René Redzepi konzentriert sich in seinem eigenen Testareal, das eher einem riesigen Wohnzimmer mit Küche, großzügigen Holztischen und Couch ähnelt, ebenfalls voll und ganz auf die Entwicklung neuer Gerichte – und auf das Leben im Familienverband, wenn man so will. Der einstige Bankettsaal im ersten Stock des noma wurde zum Arbeits- und Lebensraum umfunktioniert, inklusive eines Büroraums, eines Bereichs für die Personalessen, Kräutergarten und Testküche. Ähnlich entspannt sieht Christian Puglisi, Küchenchef des mit einem Michelin-Stern ausgezeichneten Restaurants Relæ und quasi Redzepis Restaurantnachbar, das Thema Testküche. Puglisi ist bekannt für seine Detailversessenheit, an einem neuen Erdbeergericht arbeitet er sich schon mal in fünfzehnfacher Ausführung ab – aber in der Küche des Relæ fehlt es an Platz für Langzeitexperimente. Also richtete Puglisi kurzerhand am anderen Ende der Straße eine Mini-Testküche ein, die er aber lieber „Kreativraum“ nennt. Immerhin will eine Testküche auch finanziert werden, und dass sich keiner der bisher Erwähnten zur Nennung von konkreten Zahlen durchringen kann, hat wohl seine Gründe. Nur so viel: Wer Geiz geil findet, sollte sich lieber auf Modellfliegerbausätze denn auf Testküchen freuen.

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Die Money-Maker
Wenn Geld keine Rolle mehr spielt – warum dann nicht einfach noch mehr Geld verdienen? Das Testküchen-Konzept des amerikanischen Spitzenkochs David Bouley beruht auf genau dieser Überlegung. In der Bouley Test Kitchen kann man Kochkurse um 200 Euro absolvieren, sich im interaktiven Klassenzimmer inspirieren lassen oder einen Abend am Chef’s Table, der sich praktischerweise in den Räumlichkeiten befindet, buchen. Champagnerempfang, Canapés und sechs (angeblich) neu erdachte Gerichte später ist das Portemonnaie der Gäste leer, das von Monsieur Bouley dafür um einiges voller. Selten war Testküche so sehr Restaurant wie in diesem Fall. Bouleys spanischer Kollege Paco Roncero, sternegekrönter Executive Chef des Casino de Madrid, hat den Idealismusgedanken mittlerweile ebenfalls dem Kapitalismus geopfert. 2006 eröffnete er in Madrid seinen Taller, in dem er mit verschiedenen Olivenölgeschmäcken und -texturen experimentierte, und darauf aufbauend ein dreizehngängiges Olivenöl-Menü für sein mit zwei Michelin-Sternen gekröntes Restaurant La Terraza kreierte. 2012 dann wurde aus dem Taller der PacoRonceroTaller, ein von der NH-Hotelgruppe und dem Guia Repsol Guide mitfinanzierter Hightech-Sensorik-Foodtempel, der optisch stark an ein Labor erinnert und Platz für acht vom Chef höchstpersönlich ausgewählte und eingeladene Gäste bietet. Lufttemperatur, Farben, Gerüche – in Ronceros Taller geht es weniger um Experimente denn um das multisensorische Menüerlebnis. Kleine Mogelpackung, aber ziemlich prestigeträchtig. Immerhin hat Roncero die 216 Pipetten mit Olivenölproben in seinen neuen Taller integriert, als Reminiszenz an die Anfänge. Fazit: Testküchen und Kulinariklabore sind kostspielige, aber elementare Kreativbrutstätten, die einen spannenden Blick auf die Zukunft der Hochküche ermöglichen.

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