Twins Garden: Russen auf dem Teller
Man könnte so weit gehen und sagen: Wladimir Putin ist ein Foodie. Zumindest gewinnt man diesen Eindruck, blickt man auf das Jahr 2014 zurück: Russland hat soeben die Halbinsel Krim annektiert. Der Westen erlässt schwere Sanktionen. Putin aber kontert mit einer völlig unerwarteten Maßnahme: Er verbietet die Einfuhr von Fleisch, Milchprodukten, Obst und Gemüse. Ganz so, als wollte er sagen: Essen ist Ehrensache. Ihr werdet schon sehen. Wer braucht schon Bresse-Huhn, Kobe-Rind oder Tropea-Zwiebeln?
Man könnte so weit gehen und sagen: Wladimir Putin ist ein Foodie. Zumindest gewinnt man diesen Eindruck, blickt man auf das Jahr 2014 zurück: Russland hat soeben die Halbinsel Krim annektiert. Der Westen erlässt schwere Sanktionen. Putin aber kontert mit einer völlig unerwarteten Maßnahme: Er verbietet die Einfuhr von Fleisch, Milchprodukten, Obst und Gemüse. Ganz so, als wollte er sagen: Essen ist Ehrensache. Ihr werdet schon sehen. Wer braucht schon Bresse-Huhn, Kobe-Rind oder Tropea-Zwiebeln?
Heute wissen wir: Die Russen jedenfalls nicht. Oder eben nicht mehr. Das beweist eine neue Generation von Köchen, die nach Putins Embargo in Ermangelung vieler Produkte wieder bei null anfangen musste. Und damit das russische Küchenwunder begründete, das seither weltweit für so viel Furore sorgt.
Für mich war klar: Wenn Sergey das Ding gewinnt, dann eröffnen wir unser eigenes Restaurant. Komme, was wolle.
Ivan Berezutsky über den Sieg seines Bruders beim San Pellegrino Young Chef Of The Year 2014
Garten der doppelten Genüsse
An vorderster Front dieses patriotischen wie pazifistischen Akts: Ivan und Sergey Berezutsky. Ihr Moskauer Gourmettempel Twins Garden erobert seit 2018 die internationale Gastroszene, rangiert momentan auf Platz 30 der prestigeträchtigen Liste der World’s 50 Best Restaurants und macht in internationalen Medien regelmäßig von sich reden. Der Guide Michelin verlieh der Küche der charismatischen Twins zuletzt zwei Michelin-Sterne. Und überhaupt: Dass Russland seit vergangenem Jahr eine eigene Ausgabe der scharlachroten Küchenbibel besitzt, ist ohne Zweifel auch der Verdienst dieser Ausnahmezwillinge. Mit ihrem radikalen Farm-to-Table-Konzept setzen die beiden Südrussen nicht nur neue Maßstäbe in Sachen Nachhaltigkeit und Zero-Waste. Ihre über 100 Hektar großen Anbaufelder geben Russland so ganz nebenbei eine über zu lange Zeit vernachlässigte kulinarische Identität zurück. Und das ausgerechnet mit Gemüsekreationen. Aber wer sind diese Zwillinge überhaupt?
Auf Russlands Feldern zuhause
Um diese Frage beantworten zu können, begeben wir uns in die Region Krasnodar, die Kornkammer Russlands. In einem verhältnismäßig milden Klima wachsen hier auf fruchtbaren Schwarzerdeböden Getreide, Tee, Zitrusfrüchte und jede Menge Obst. Außerdem gehört der Wein, der entlang der Küste am Schwarzen Meer gekeltert wird, zu den besten des Landes. Auf diesem idyllischen Fleckchen Erde wachsen Mitte der 1980er-Jahre Ivan und Sergey Berezutsky auf. Hier ist man weit entfernt vom kommunistischen Einheitsbrei, der in urbanen Arbeiterkantinen auf den Tellern landet. „Als Kinder haben wir oft unserer Mutter beim Gemüseernten und Kochen geholfen“, erinnert sich Ivan. Die prägendste Kindheitserinnerung der beiden: das Zubereiten der Adschika. Einer Sauce aus Tomaten, Knoblauch, „vielen, sehr vielen Kräutern“ und Pfeffer.
Für die Gebrüder Berezutsky steht bald fest: Sie wollen kochen. Und zwar beruflich. Ihre Lehrzeit führt sie nach Moskau und St. Petersburg. Doch beiden ist bald klar: Ihren großen Lernhunger können sie nur außerhalb Russlands stillen. Das Ziel: in den Küchen der besten Restaurants der Welt zu kochen. Sergey blickt im Alinea dem Molekularküchenmeister Grant Achatz über die Schulter. Ivan geht zu Ferran Adrià ins El Bulli. Zwei ganz unterschiedliche Küchen, einerseits. Andererseits, und das ist bezeichnend: Nirgends wird zu dieser Zeit kühner experimentiert, nirgendwo den Gästen mehr zugemutet als an diesen beiden Adressen. Was die Zwillinge heute kreieren, wäre ohne diese Erfahrungen wohl undenkbar.
Unsere große Farm
Zum Wendepunkt wurde für Ivan und Sergey dann das Jahr 2014 – und zwar in doppelter Hinsicht. Neben Putins Handelsembargo gewann Sergey den prestigeträchtigen Titel „San Pellegrino Young Chef of the Year“ – als erster Russe in der Geschichte dieses Wettbewerbs überhaupt. „Für mich stand fest“, erinnert sich Ivan, „wenn mein Bruder diesen Wettbewerb gewinnt, eröffnen wir unser eigenes Restaurant“. Wenige Monate später legten die Koch-Brüder in ihrem ersten Restaurant namens Twins, nur wenige Gehminuten von ihrem heutigen Twins Garden in Moskau entfernt, los.
„Wir räumten von Anfang an dem Gemüse eine größere Rolle ein als alle anderen russischen Restaurants zu der Zeit“, sagt Sergey. Moskauer Gäste waren erstaunt und verstört. Die ersten Journalisten hingegen fasziniert. „Für uns stand fest: In ein paar Jahren werden Gemüsegerichte das Nonplusultra im Finedine. Was wir aber auch wussten: Die Qualität an Gemüse, die man in Moskau bekommt, ist zwar nicht schlecht, aber nicht hervorragend.“ Fazit: Um mit bestem Gemüse in Bio-Qualität arbeiten zu können, pflanzten die Brüder es eben selbst an. Und das auf einer eigenen Farm, die sich mittlerweile über 100 Hektar erstreckt.
In Russland ist die „Twins Farm“ die erste, die ausschließlich für die Versorgung eines einzelnen Restaurants kultiviert wird. Eigens dafür engagierte Wissenschaftler von der Staatlichen Agraruniversität in Moskau liefern kontinuierlich Know-how bei der Überwachung 150 alter, teilweise fast vergessener Gemüsesorten. Überhaupt geht es auf der Farm, die rund 100 Kilometer vom heutigen Twins Garden – das die Brüder 2017 eröffneten – entfernt ist, um viel mehr als nur um Gemüse. Kühe und eine seltene Ziegenrasse aus Nubien leben hier genauso. Sie sorgen für hochwertige Milch. Außerdem halten die Gebrüder ihre eigenen Hühner und Fische.
Mittlerweile machen die Produkte aus der Farm gut zwei Drittel aller im Twins Garden verarbeiteten Lebensmittel aus. Und: Was im Restaurant übrig bleibt, wird zum allergrößten Teil an die Kühe, Hühner, Ziegen und Fische der Farm zurückverfüttert. Oder einfach als Kompostmasse verwertet. Eine ausgefeilte Kreislaufwirtschaft also. Sie bringt die Küche im Twins Garden erst so richtig zum Leuchten.
3D ist erst der Anfang
Was dort aufgetischt wird, könnte man zwar „Neue Russische Küche“ nennen, doch das würde dem Tun der Berezutsky-Zwillinge nicht gerecht. Schließlich verkörpert das Twins Garden etwas, das vor kurzer Zeit noch als Widerspruch gegolten hätte: erdverbundene Bodenständigkeit versus hochtrabende Wissenschaftlichkeit und radikaler Produktpurismus samt eigener Farm versus technische Raffinesse aus dem Labor. Das eigene Labor ist übrigens abseits der Farm das zweite Herzstück des Twins Garden. Hier entstehen in monatelanger Arbeit Gerichte wie der vegane Kalmar aus konzentriertem Bohneneiweiß, Salz und Meeresalgen. Diesen stellen die Zwillinge mithilfe eines umgebauten 3D-Druckers her!
Die Qualität an Gemüse, die man an Moskauer Märkten bekommt, ist nicht unbedingt schlecht. Aber auch nicht hervorragend.
Sergey Berezutsky über den ausschlaggebenden Punkt, warum es für das Twins Garden eine eigene Farm braucht
Nicht nur kommen mit dieser Kreation – die Zwillinge sagen augenzwinkernd „Squid Game“ dazu – auch Gäste mit einer Allergie auf Krusten- und Schalentiere in den Genuss des jodigen Tintenfischaromas. „Ein 3D-Drucker druckt nur so viel, wie gerade gebraucht wird“, erklärt Ivan. „Damit kann in Zukunft die Lebensmittelverschwendung massiv reduziert werden.“ Doch nicht nur die Teller sind bis ins letzte Details durchdacht, auch an dem, was ins Glas kommt, wird getüftelt. Bestes Beispiel sind, neben dem Bier aus roter Bete, sogenannte Gemüseweine. Weine, die denselben Herstellungsprozess wie Rebensäfte durchlaufen, nur eben mit – Sellerie, Trüffeln oder Karotten.
Allem Hype zum Trotz versichern die Brüder jedoch: „Wir stehen erst am Anfang.“ In Zukunft sollen Gäste in eigenen Häusern auf der Farm übernachten können. „Wir wollen ihnen eine ganzheitliche Erfahrung bieten.“ Außerdem wird geforscht und getüftelt. Zwei Stunden täglich investieren die Berezutskys in die Entwicklung neuer Gerichte. Außerdem präsentieren sie in diesem Jahr ein neues Wissenschaftsprojekt. Aktueller Status: Top Secret. Mit Ivan und Sergey Berezutsky jedenfalls steht dem internationalen Siegeszug einer eigenständigen russischen Küche nichts mehr im Weg. Es sei denn, Wladimir Putins Aggression gegen die Ukraine treibt so geschmacklose Blüten, dass selbst den Zwillingen der Appetit vergeht.
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IVAN & SERGEY BEREZUTSKY. 1985 in Südrussland geboren, lernten die Zwillinge ihr Handwerk bei Granden wie Grant Achatz oder Ferran Adrià. 2014 eröffneten sie ihr erstes eigenes Restaurant in Moskau, mit dem sie auf Platz 66 der World‘s 50 Best Liste landeten. 2017 schlossen sie das Restaurant und eröffneten nur wenige Gehminuten entfernt das Twins Garden. Das Konzept mit eigener Farm, auf der im Norden Moskaus über 100 Gemüseund Kräutersorten wachsen, Ziegen und Kühe grasen, Hühner gackern und Fische schwimmen, rangiert auf Platz 30 der World‘s 50 Best Restaurants und wurde vom Guide Michelin mit zwei Sternen und dem Grünen Stern ausgezeichnet.