Vitus Winkler: Der Gipfelstürmer
Fanny Schandlbauer, diesen Namen kannte in Zell am See jeder. Damals, Mitte der 1920er-Jahre, verbreiteten sich nämlich Skandale dieser Art wie ein Lauffeuer. An jeder Ecke zerriss man sich im mondänen Kurort das Maul darüber: Die Fanny hatte sich scheiden lassen. Ihr Mann hatte eine Neue. Und bald würde sie mit ihren beiden Kindern zurückkehren in ihre alte Heimat: nach St. Veit im Pongau.
Fanny Schandlbauer, diesen Namen kannte in Zell am See jeder. Damals, Mitte der 1920er-Jahre, verbreiteten sich nämlich Skandale dieser Art wie ein Lauffeuer. An jeder Ecke zerriss man sich im mondänen Kurort das Maul darüber: Die Fanny hatte sich scheiden lassen. Ihr Mann hatte eine Neue. Und bald würde sie mit ihren beiden Kindern zurückkehren in ihre alte Heimat: nach St. Veit im Pongau.
Auf dem idyllischen Sonnenplateau dieses berühmten Luftkurorts im Bundesland Salzburg eröffnete die Alleinerzieherin wenig später eine Pension mit Café. Dass sie zuvor in Zell am See als Geächtete galt, interessierte hier bald niemanden mehr. Im Café verkehrte bald die feine Gesellschaft St. Veits. Echtes Silberbesteck. Gutes Essen. Alles eingebettet in ein landschaftliches Bilderbuchidyll. Ja, Madame Schandlbauers Café galt plötzlich als feine Adresse. Und die Gastgeberin als tüchtige, rechtschaffene Frau.
Mir ist wie durch ein Wunder nichts passiert. Aber ich brauchte jetzt Geld.
Nach seinem Autounfall musste sich Vitus Winkler etwas einfallen lassen – und entdeckte eine neue Welt für sich
Seither ist viel passiert. Das Hotel Sonnhof liegt heute in den Händen ihres Urenkels. Und Vitus Winkler weiß, was er seiner Urgroßmutter zu verdanken hat. Das Jahr der Eröffnung, 1928, ließ er sich deshalb gar auf seine Kochjacke sticken. „Sie hat viel geopfert, um der Familie einen funktionierenden Betrieb zu vermachen“, sagt er. Unter seiner Federführung macht das Sonnhof mittlerweile weit über die Grenzen Österreichs hinaus von sich reden.
Das hoteleigene Restaurant namens Kräuterreich by Vitus Winkler adelt der Gault&Millau seit 2019 durch vier Hauben. Mit regionalen Bergkräutern wie Augentrost, Hirtentäschelkraut, Vogelbeere und Gundelrebe definiert Spitzenkoch Winkler die alpine Küche neu, brilliert mit „Terroir-Gerichten nach Höhenlagen“ – und wartet mit einer fast schon unverschämt großen Weinkarte auf, die dem vergorenen Rebensaft aus dem alpinen Raum huldigt. Für den jungen Hausherrn ist das aber alles erst der Anfang.
Alles beginnt mit einem großen Plan
Im Gegensatz zu vielen anderen Familienbetrieben war es bei den Winklers die Mutter, die in der Küche den Ton angab. Vitus’ Vater schmiss den Service, die Buchhaltung, eben alles, was abseits der Küche so gemanagt werden musste. „Meine Mutter hat mich schon als Zweijährigen auf den Rücken geschnallt, während sie kochte“, erinnert sich Winkler. Früh schon mussten sein älterer Bruder und er selbstständig sein, da die Eltern bis spät abends arbeiteten. Morgens schliefen sie noch, wenn die beiden Buben schon auf dem Schulweg waren. Winkler erinnert sich jedoch gerne an seine Kindheit. Die Geschäftigkeit im Hotel. Das Kommen und Gehen der Gäste. Das Brutzeln und Zischen in der Küche.
All das führte dazu, dass er denselben Weg wie Papa und Mama einschlagen wollte. Wobei ihn das Kochen seit jeher am meisten faszinierte. „Andererseits“, sagt Winkler, „wusste ich auch: Wenn ich eines Tages das Hotel übernehmen will, muss ich auch den Service beherrschen. Deswegen habe ich mich für die Hotelfachschule in Bad Hofgastein entschieden, wo man mehr als nur das Kochen lernt.“ Während seiner Ausbildung entwickelte Winkler eine Faszination rund um das Thema Getränke. „Ähnlich wie beim Kochen produziert da jemand etwas. So habe ich mein Interesse für Wein entdeckt.“ Dass dieses Interesse ihn eines Tages in gewisser Weise retten und seiner Küche entscheidende Impulse verleihen sollte, ahnte der Lehrling damals freilich nicht.
Ein Unfall, der alles verändert
Zell am See, Saalbach-Hinterglemm, Kitzbühel, Oberlech. Von einem Praktikum am Wörthersee abgesehen, scheint Winkler von Anfang an seiner alpinen Heimatregion auf der Spur gewesen zu sein. Und doch: Gerade in jungen Jahren können die Berge der Heimat eng sein. Winkler wollte für eine Auszeit frische Luft schnappen, ging ein paar Monate nach Korsika, dann nach Mallorca. Zurück in St. Veit, wäre er bereit gewesen, Wurzeln zu schlagen. Das Schicksal, scheint es, wollte es aber anders. „Mir ist wie durch ein Wunder nichts passiert“, erinnert sich Winkler an den Autounfall auf einer Landstraße unweit von zu Hause.
„Aber das Auto war schwer beschädigt. Die Reparatur hat mehrere Tausend Euro gekostet. Dieses Geld hatte ich nicht.“ Um zu diesem Geld zu kommen, empfahl ihm seine Mutter, nach Oberlech auf Saison zu gehen. Aber nicht als Koch, sondern als Kellner. „Sie sagte: Dort verdienst du was, lernst aber auch viel.“ War dann auch so: Im Burghotel Oberlech konnte der Koch endlich seiner Leidenschaft für Weine nachgehen. „Der Weinkeller hatte damals schon über 1000 Positionen, da konnte ich mich so stark wie noch nie in die Thematik vertiefen.“
Mit dem Geld in der Tasche ging es nach drei Saisonen zurück nach Hause. Winkler ließ sein Auto reparieren, machte den Diplom-Sommelier – und übernahm an der Seite seiner Mutter das Küchenzepter. Innerhalb von zwei Jahren holte das Duo die zweite Haube. Alles lief endlich nach Plan. Die Familie war zufrieden mit der Situation: Der talentierte Sohn hatte sich in renommierten Häusern bewährt. Hatte seinen Horizont im Ausland erweitert. Sich eine Unmenge an Wissen angeeignet. Zusammen mit seiner Frau Eva-Maria würde er hier wohl sesshaft werden. Man könnte die Übergabe also mit ausreichend Zeit planen …
Ein Unfall, der alles verändert
Bis die Nachricht der Krebserkrankung seines Vaters den gesamten Betrieb erschütterte. „Die Diagnose war eindeutig“, erinnert sich Winkler, „Leukämie, aber immerhin eine chronische. Mein Vater würde die Krankheit also in den Griff bekommen können. Vorausgesetzt, sein Stresspegel geht zurück. Das bedeutete natürlich, dass er die Leitung des Hotels abgeben musste.“ Zu diesem Zeitpunkt war Vitus 29 Jahre alt. Er übernahm. Zusammen mit seiner Frau begann er, den Betrieb nach den gemeinsamen Vorstellungen weiterzuentwickeln. Dafür griff er auf seine Erfahrungen von Korsika und Mallorca zurück. „Dort wird aus jeder Ecke eine Sehenswürdigkeit gemacht. Das ist in Österreich meines Erachtens noch zu selten der Fall. Wir vergessen oft, was für Schätze vor unserer Haustüre liegen.“
In vielen Ländern wird aus jeder Ecke eine Sehenswürdigkeit gemacht.
Vitus Winkler findet, Österreich könnte seine Naturschätze stärker hervorheben
Bei seinen Spaziergängen und Wanderungen im nahen Umland hielt der Neo-Hoteldirektor und alleinige Küchenchef seine Augen somit bewusst offener denn je. Er entdeckte die schiere Vielfalt an regionalen Bergkräutern. Verschlang Fachliteratur, experimentierte mit all den aromengewaltigen Pflänzchen herum. Und fand so zu seiner ureigenen Version einer leichten, handwerklich erstaunlich virtuosen alpinen Küche. Doch diese Reise ist noch lange nicht zu Ende: Den bis heute nicht final erforschten Wirkungen all dieser Bergkräuter will Winkler auch in Zukunft weiter auf den Grund gehen. „Ein Lebensmittel ist für mich mehr als ein Produkt, es ist ein Mittel zum Leben. Diesen gesundheitlichen Aspekt möchte ich in meiner Küche weiterverfolgen“, sagt er.
Auch die mittwöchigen Kräuterwanderungen mit den Hotelgästen möchte er ausbauen. „Es kommen immer mehr Gäste mit enormem Fachwissen hierher, das ist auch für mich extrem wertvoll!“ Die Weinkarte mit Schwerpunkt auf Weinen aus dem alpinen Raum soll bald noch größer werden, auf 400, 500 Positionen anwachsen. Und im nächsten Jahr wird dann hoffentlich auch die Küche umgebaut. „Ich bin wie meine Urgroßmutter“, sagt Winkler, „ich möchte meinen Kindern eines Tages einen guten, lebenswerten Betrieb hinterlassen.“
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VITUS WINKLER
Als jüngster Spross einer alteingesessenen Hoteliers- und Gastronomenfamilie sog Vitus Winkler das Handwerk des Kochs im wahrsten Sinne des Wortes mit der Muttermilch auf: Seine Mutter kochte im familieneigenen Hotel Sonnhof, der Vater war für den Service verantwortlich. Nach mehreren Stationen im In- und Ausland kehrte Winkler 2012 nach St. Veit im Pongau zurück – und übernahm das elterliche Hotel samt Restaurant. Sein Fine-Dine Restaurant Kräuterreich by Vitus Winkler, wo sich alles um alpine Kräuter dreht, wird seit 2019 mit 17.5 Punkten und vier Hauben im Gault&Millau ausgezeichnet. Auf der Austria‘s 100 BEST CHEFS-Liste rangiert der heute 39-Jährige auf Platz 32.