Die große Chance
Hier noch der Fenchel und dort noch das Meeresalgen-Chlorophyll: Die „Seehechtrinden-Brandade“ kann raus. Heute ist wieder einmal die Hölle los im 2-Sterne-Restaurant El Portal del Echaurren im 2000-Seelen-Dorf Ezcaray im Nordosten Spaniens. Denn wenn im Sommer die halbe Nation hier Urlaub macht, dann ist von Ruhe, wie man sie in einem so beschaulichen Örtchen vermuten würde, nichts zu merken. Und schon gar nicht in der Küche von 2-Sterne-Koch Francis Paniego.
Das ist gut so. Findet auch Abdel: 22 Jahre alt und zuständig dafür, dass „Windbeutel Saignant“ und „Gamba Roja mit Geflügelfond und Viura“ korrekt zu den Gästen rausgehen. Das hätte der junge Marokkaner noch vor einigen Monaten nicht zu träumen gewagt. Mit zwölf Jahren im Boden eines Lkws von der Grenze bis nach Madrid geschmuggelt und jetzt hier Postenchef in einem der renommiertesten Betriebe des Landes. „Man braucht schon eine große Portion Glück“, meint Abdel bescheiden. Nach einigen Minuten des Gesprächs stellt sich heraus, dass er der einzige seiner sechs Geschwister ist, der es geschafft hat, in Spanien zu bleiben. Durch ein Projekt, das Cocina Conciencia heißt und gar nicht weit von diesem 2-Sterne-Restaurant in den Weinhügeln Riojas seinen Anfang genommen hat.
Von der Straße in die Küche
Wir schreiben das Jahr 2010: Einige Kilometer von Ezcaray in Richtung Atlantik gelegen, in San Sebastián, lebt Lhoussaine. Ein Junge aus Marokko, der nur mehr auf seine Abschiebung wartet. Weil seine Papiere kurz vor dem Ablaufen sind und er gerade seinen 18. Geburtstag gefeiert hat. Nun volljährig, aber ohne Arbeit kann er von den spanischen Behörden in sein Land zurückgeschickt werden. Jugendliche, die ohne Begleitung nach Spanien gelangen, müssen per Gesetz geschützt werden. Ab dem Tag der Volljährigkeit hebt sich diese Immunität auf, der Flüchtling ohne Papiere hat keine Aufenthaltsgenehmigung mehr und somit auch keine Möglichkeit, legal an Arbeit zu gelangen. Doch bevor es für Lhoussaine nach Marokko zurückgehen soll, sollte er noch mit Cristina Jolonch sprechen. Einer Journalistin aus Barcelona, die zu dem Zeitpunkt für einen Artikel rund um das Flüchtlingsthema recherchiert.
Bewegt von Lhoussaines Geschichte ruft diese ihre Freundin Susana an: „Das kann es doch nicht geben, dass man hier nichts machen kann.“ Fanden auch Susana Nieto und Andoni Luis Aduriz aus dem 2-Sterne-Restaurant Mugaritz und stellten Lhoussaine ein. Die große Chance für den jungen Mann, der nach seiner Ausbildung im baskischen Sternerestaurant weiter in Albert Adriàs Restaurant Tickets zog. Eine Erfolgsgeschichte, die Cristina, Susana und Andoni gerne öfter sehen wollten und daher mit Fundación Raíces und deren Gründern Lourdes Reyzábal und Nacho de la Mata Kontakt aufnehmen. Die Organisation in Madrid steht Jugendlichen seit 2003 zur Seite und versucht, diese Jugendlichen und jungen Erwachsenen in die Gesellschaft zu integrieren. Indem sie sie rechtlich sowie sozial unterstützt und Arbeitsplätze vermittelt. Mit Cocina Conciencia in den besten Küchen der Nation.
Lourdes Reyzábal erklärt: „Die Arbeit in Restaurants ist Teamwork. Es war uns sehr wichtig, dass die jungen Erwachsenen integriert werden, wie in eine Familie. Die vielen Stunden, die man in der Gastronomie gemeinsam verbringt, schweißen zusammen. Nimmt sich hier einer als Tutor der Schützlinge an – und das ist Voraussetzung –, so sind sie Teil der Familie und erlernen zugleich einen Beruf.“ So wie Musa aus Gambia im 2-Sterne-Restaurant Atrio in Cáceres in Extremadura. José und Toño führen diese Gastro-Familie an. Toño in der Küche und José als Gastgeber. „Eigentlich haben wir 40 Kinder“, lacht José und meint damit die gesamte Crew des Hauses. „Wir sind hier in einer der abgelegendsten Regionen Spaniens.
Wir müssen zusammenhalten, um gemeinsam etwas zu schaffen, das die Leute hierher, nach Cáceres lockt“, so der Gastgeber, der über Francis Paniego zum Projekt Cocina Conciencia kam. „Über ihn haben wir erfahren, dass hier eine helfende Hand gebraucht wird. Und so haben wir Musa angestellt“, so José. Der heute 22-Jährige ist mit 15 Jahren illegal nach Spanien gelangt. Man merke ihm seinen Leidensweg sehr wohl an, so der Gastronom, doch umso schöner sei es zu sehen, wie Musa heute mit seinen Kollegen scherzt und lacht. „Wir wünschen uns, dass Musa eines Tages seinen eigenen Weg gehen kann.
Momentan wirkt er glücklich und das ist das Wichtigste.“ Hier Hilfe zu leisten, sei im Prinzip einfach, sagt auch Francis Paniego aus dem Restaurant Echaurren: „Man muss die Jungen anstellen.“ Natürlich geht das Projekt weit darüber hinaus. Sie sind alleine hier und brauchen Halt. „Die Verbindung zu Abdel wird ein Leben lang bestehen“, ist sich auch Paniego sicher, der seit 2014 auf Abdel zählen kann. „Auf eine gewisse Art und Weise bin ich sein Vater hier in Spanien. Ich bin für ihn verantwortlich und das, was man zurückbekommt, ist noch viel mehr als das, was man gibt.“ Und so hat er ihn zwar sehr vermisst, als dieser mit seiner spanischen Freundin Julia auf Stage zu Ricard Camarena nach Valencia ging. „Aber so sind sie eben, die Jungen“, lacht Paniego. „Raus in die Welt und Neues lernen.“ Abdel jedenfalls war nach der Stage so weit, dass er jetzt Vorspeisen auf 2-Sterne-Niveau anrichtet und schon lange ein vollwertiges Mitglied des 2000-Seelen-Dorfes in den Hügeln von Rioja ist. Hätte er sich das je gedacht? „Ich plane eigentlich nie und lebe im Jetzt“, so die Aussage und wohl auch erlernte Eigenschaft des jungen Erwachsenen, der viele Geschichten kennt, die anders ausgegangen sind als die seinige. „Man muss großes Glück haben und jemanden, der einem die Hand reicht“, so Abdel. „Ich habe nur eine Chance gebraucht, weil ich gewusst habe, wenn ich diese bekomme, werde ich sie nutzen.“