Bistronomy: Wie Yves Camdeborde von Paris aus Fine Dine revolutionierte

Der Bistronomy-Boom erobert die Welt im Sturm. Was genau hinter dem einzigartigen Phänomen steckt – und warum es trotz allem auf die Sternegastronomie angewiesen ist.
August 2, 2019 | Text: Lucas Palm | Fotos: Stéphane de Bourgies, Shutterstock, Nicolas Villion, Lucie Sassiat

Von Netflix und martialischen Herdmagiern

Seit der Jahrtausendwende ist kein Stein auf dem anderen geblieben. Zumindest in gastronomischer Hinsicht. Die Liste der World’s 50 Best Restaurants begann 2002 ihren Siegeszug. Soziale Medien fingen nur wenig später damit an, Gastronomie flächendeckend zu ästhetisieren: Gerichte wurden zu Foodporn und Küchenchefs nicht selten zu martialischen Herdmagiern mit Tausenden von virtuellen Freunden und Followern. Und heute erreicht Netflix mit Shows wie „Chef’s Table“, „Ugly Delicious“ oder „Parts Unknown“ ein Millionenpublikum, das kulinarisch wohl auch für die nächsten Jahrzehnte Blut geleckt hat.
csm_rp239_bistronomy_header2_06a855710aMonsieur Bistronomy: Yves Camdeborde gehört zu den charismatischsten Gründern der Bistronomy und revolutionierte mit seinem Le Comptoir du Relais in Paris das weltweite Verständnis von Spitzenküche.
All diese Umwälzungen kristallisieren sich heute in einem faszinierenden Phänomen, das gemeinhin unter dem Stichwort Bistronomy bekannt geworden ist, heraus. Ein terminologischer Schmelztiegel aus den Wörtern „Gastronomie“ und „Bistro“, könnte dieser aus Frankreich stammende Trend auch mit Casual Fine Dining übersetzt werden. Wie auch immer man es nennen mag: Es geht um gutes, handwerklich perfekt zubereitetes Essen, aber im Gegensatz zur klassischen Spitzengastro- nomie eben zu erschwinglichen Kosten und Preisen. Nur: Was genau steckt hinter dem Siegeszug von Bistronomy? Wer sind die Vorreiter dieses unumkehrbaren Trends? Und was bedeutet es für die Zukunft der Sternegastronomie?

Von Netflix und martialischen Herdmagiern

Seit der Jahrtausendwende ist kein Stein auf dem anderen geblieben. Zumindest in gastronomischer Hinsicht. Die Liste der World’s 50 Best Restaurants begann 2002 ihren Siegeszug. Soziale Medien fingen nur wenig später damit an, Gastronomie flächendeckend zu ästhetisieren: Gerichte wurden zu Foodporn und Küchenchefs nicht selten zu martialischen Herdmagiern mit Tausenden von virtuellen Freunden und Followern. Und heute erreicht Netflix mit Shows wie „Chef’s Table“, „Ugly Delicious“ oder „Parts Unknown“ ein Millionenpublikum, das kulinarisch wohl auch für die nächsten Jahrzehnte Blut geleckt hat.
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Monsieur Bistronomy: Yves Camdeborde gehört zu den charismatischsten Gründern der Bistronomy und revolutionierte mit seinem Le Comptoir du Relais in Paris das weltweite Verständnis von Spitzenküche.
All diese Umwälzungen kristallisieren sich heute in einem faszinierenden Phänomen, das gemeinhin unter dem Stichwort Bistronomy bekannt geworden ist, heraus. Ein terminologischer Schmelztiegel aus den Wörtern „Gastronomie“ und „Bistro“, könnte dieser aus Frankreich stammende Trend auch mit Casual Fine Dining übersetzt werden. Wie auch immer man es nennen mag: Es geht um gutes, handwerklich perfekt zubereitetes Essen, aber im Gegensatz zur klassischen Spitzengastro- nomie eben zu erschwinglichen Kosten und Preisen. Nur: Was genau steckt hinter dem Siegeszug von Bistronomy? Wer sind die Vorreiter dieses unumkehrbaren Trends? Und was bedeutet es für die Zukunft der Sternegastronomie?
In meinem Comptoir sitzt der topverdienende Geschäftsführer Ende 50 direkt neben dem Arbeiter zum Mindestlohn Anfang 20.
Yves Camdebordes unberstreitbarer Verdienst: Er hat Fine-Dine von Paris aus radikal demokratisiert 

Schluss mit altmodischem Getue

Wir schreiben das Jahr 2005, als ein gewisser Yves Camdeborde im quicklebendigen Pariser Stadtteil Odéon das Le Comptoir du Relais Saint-Germain eröffnet. Ohne sich dessen wirklich bewusst zu sein, legte Camdeborde damit den Grundstein für ein gastronomisches Verständnis, das in den folgenden zehn Jahren nicht nur die französische Hauptstadt wie im Sturm erobern sollte. „Ich habe nie ganz verstanden, warum es sich nur reiche Leute leisten können sollen, gut essen zu gehen“, erklärt der 54-Jährige, der selbst jahrelang in spitzengastronomischen Betrieben wie dem Ritz, dem Tour d’Argent oder auch dem sagenumwobenen Hôtel de Crillon gearbeitet hat.
„Das war der Hauptgrund, warum ich das Comptoir gegründet habe. Ich wollte den Restaurantsälen wieder Leben einhauchen. Wenn man wohin essen geht, dann betritt man nicht den Louvre, sondern ein Restaurant. Und ein Restaurant, das ist ein Ort der Entspannung, ein Ort des Wohlfühlens und des Glücks – nicht ein Museum. In einem Restaurant muss es leben!“, skandiert der gebürtige Südfranzose, der seinen aquitanischen Akzent auch nach Jahrzehnten in Paris nicht abgelegt hat.
Ich wollte den Restaurantsälen wieder Leben einhauchen.
Yves Camdeborde hält nichts von Fine-Dine-Museen 
Eine Grundneuerung der Bistronomy besteht in einer neuen Atmosphäre, die weniger steif und elitär ist, als man es von klassischen Sternerestaurants kennt. Wie in einem Pariser Bistro eben. „Dieses altmodische Getue“, wettert Camdeborde, „wo es heißt: ‚Sie werden jetzt dieses oder jenes Gericht von unserem ach so tollen Koch namens so und so essen, dann werden Sie mit diesem Stückchen mithilfe dieses Löffelchens beginnen, dann gehen Sie so und so vor und trinken gefälligst dies und das dazu‘, das alles gibt es nicht bei mir. Ich habe das, was man heute Bistronomy nennt, gemacht, um diese Konventionen zu brechen. Gut essen, gut trinken, gut beisammensitzen, das alles sind Dinge, die simpel bleiben müssen.“
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La vie est belle: Gutes, handwerklich perfekt zubereitetes Essen, das in entspannter Atmosphäre stattfindet und noch dazu leistbar ist  – kein Wunder, dass das Bistronomy-Phänomen auch außerhalb von Paris für Furore sorgt. 

Pfeif auf Sterne!

Das bedeutet im Umkehrschluss natürlich auch, dass die elitären Auszeichnungen für solche Betriebe an Attraktivität verlieren – und gar nicht erst angestrebt werden. Zu Recht, findet Camdeborde: „Die Spitzengastronomie hat in den letzten Jahrzehnten viel zu viel Druck aufgebaut. Viele junge Köche wollen das einfach nicht mehr. Auch deswegen haben viele, zumindest in Frankreich, den Weg der Bistromomy eingeschlagen. Sie wollen keine Sterne und keine Gault-Millau-Punkte.“ Einer dieser jungen Bistromomy-Köche ist Pierre Sang. Im Pariser Bezirk Oberkampf führt der gebürtige Koreaner, der an der Loire aufwuchs, sein Restaurant namens Pierre Sang in Oberkampf. Das Konzept: französisch-koreanische Gerichte, ohne fixe Karte.
Die Spitzengastronomie hat in den letzten Jahrzehnten viel zu viel Druck aufgebaut.
Camdeborde hält nichts vom Hauben- und Sternechichi 
Die Preise: sechs Gänge um 39 Euro abends, mittags Vor- und Hauptspeise um 20 Euro. „Die Bistronomy“, so Sang, „ist eine Antwort auf den neuen Trend, schmackhafte und gesunde Küche in entspannter Atmosphäre zu vereinen – und das alles zu vernünftigen Preisen.“ Es ist dieser mehrdimensionale Ansatz, der verstärkt junge Menschen in bistronomische Restaurants lockt. Aber nicht nur – darauf besteht Camdeborde.
„In meinem Comptoir sitzt der topverdienende Geschäftsführer Ende 50 direkt neben dem Arbeiter zum Mindestlohn Anfang 20. Wir haben das alles demokratisiert. Die Atmosphäre, die in einem Restaurant herrscht, muss allen gehören und darf nicht nur einem bestimmten elitären Kreis vorenthalten bleiben.“ Was für die Atmosphäre gilt, gilt natürlich umso mehr fürs Essen. Es ist schließlich ein bestechendes Verdienst der Bistronomy, gehobene Kulinarik in einem Maß zugänglich gemacht zu haben, wie es im Laufe der Geschichte noch nie der Fall gewesen ist.

Bleibt das Produkt der Star?

Es ist kein Zufall, dass der Großteil der bistronomischen Köche ihr Handwerk in der Spitzengastronomie erlernt hat. Denn rein handwerklich geht es in den Küchen von Bistronomy-Hotspots in Paris und auf der ganzen Welt mindestens genauso virtuos zu und her wie in klassischen 3-Sterne-Küchen. Wo sich Bistronomy von der Sternegastronomie kulinarisch jedoch radikal unterscheidet, ist im Produkt.
Camdeborde erklärt das anhand eines konkreten Beispiels folgendermaßen: „Ich nehme zum Beispiel eine Sardine und bereite sie zu wie eine Seezunge. Natürlich, die Sardine ist ein preiswertes Produkt. Aber ich bin als Koch dazu verpflichtet, sie technisch genauso versiert, reflektiert und mithilfe meiner ganzen Persönlichkeit so zuzubereiten, als wäre sie der edelste Meeresfisch der Welt.“ Das Ergebnis eines solchen Zugangs liegt auf der Hand: „Erstens kann ich den Gästen damit eine kulinarische Emotion um vergleichsweise wenig Geld anbieten. Und zweitens kostet mich natürlich die Produktbeschaffung weniger.“
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Französisches Savoir-vivre: Hochwertige Küche, die gleichzeitig leistbar ist, macht den Bistronomy-Trend aus, der von Paris aus die gesamte Welt erobert. 
Auf den Geschmack des bestechenden Konzepts Bistronomy ist bezeichnenderweise auch einer der begnadetsten Techniker in unseren Breiten gekommen: Tim Raue. Neben seinem Berliner Gourmettempel Restaurant Tim Raue, der mit zwei Sternen, 19,5 Gault-Millau-Punkten und Platz 37 auf der World’s-50 Best-Restaurants Liste ausgezeichnet wurde, führt die charismatische Berliner Schnauze drei bistronomische Outlets namens Colette – und zwar in Berlin, München und Konstanz. Das Konzept: französische Klassiker, denen Raues akzentuiertes Zusammenspiel aus Schärfe, Süße und Säure neuen Twist gibt. „Natürlich ist es so, dass du mit Bistronomy mehr Leute erreichst als mit Fine Dining. Aber ich glaube, dass das eine das andere durchaus braucht“, so Raue.

Warum die Sternegastronomie nicht aussterben wird

„Wenn Menschen etwas Großes zu feiern haben, dann gehen sie halt so gut wie möglich essen. Und mit Bistronomy gibt es jetzt die Möglichkeit, so gut wie jeden Tag gut essen zu gehen, und zwar so, dass es nicht nur leistbarer, sondern auch entspannter ist.“ Raue macht den Unterschied zwischen Bistronomy und Sternegastronomie anhand seiner eigenen Betriebe ganz unumwunden deutlich: „Natürlich ist es so, dass wir in unseren Casual-Dining-Outlets wie den Colette-Bistros mit Produkten arbeiten, die eine Liga unter denen sind, die wir im Hauptrestaurant in Berlin verarbeiten.
Schlussendlich geht es eben immer darum: Wie erreiche ich welche Gäste?
Tim Raue kann auch betriebswirtschaftlich dem Bistronomy-Konzept etwas abgewinnen 
Wir brauchen da ja gar nicht erst anzufangen, mit Langusten und den größten Kaisergranaten herumzueiern“, ist Raue überzeugt und bricht es aus Gastronomen-Perspektive auf die Maxime herunter: „Schlussendlich geht es eben immer darum: Wie erreiche ich welche Gäste?“ Genau hier positionieren sich bistronomische Betriebe ebenso effizient wie akzentuiert. Denn wie auch in Raues Colette-Outlets setzen Bistronomy-Betriebe vorrangig auf lokale Kundschaft. Außer sie werden Opfer ihres eigenen Erfolgs, wie beispielsweise das Septime in Paris, das mit Platz 15 der diesjährigen World’s 50 Best Restaurants mittlerweile so viele Menschen aus der ganzen Welt anzieht, dass ohne Reservierungen drei Wochen im Voraus kein einziger Sitz zu haben ist.
Das Abendmenü um 155 Euro – inklusive Weinbegleitung – ist zwar immer noch deutlich billiger als in der Spitzengastronomie. Doch Camdeborde wittert im Bistronomy-Boom dennoch die eine oder andere Gefahr: „Bestimmte Codes, die ich mit Bistronomy brechen wollte, schleichen sich langsam in bestimmte Bistromomy-Betriebe ein. Ob das jetzt die Dekoration, die soziale Position der Gäste oder auch deren Kleidung betrifft.
Wenn ich ein solches Restaurant betrete, denke ich mir immer öfter: Die Gäste sind alle bärtig, sie sind alle tätowiert und jeder trägt ein weißes Hemd, das gebügelt gehört. Man sollte nicht vergessen, woher die Bistromomy wirklich kommt.“ Und sich auch fragen, wo sie hingeht: Wird sie die Sternegastronomie über kurz oder lang ausschalten? Yves Camdeborde, Pierre Sang und Tim Raue sind sich einig: Nein. „Es ist dem Know-how der Spitzengastronomie zu verdanken, dass innerhalb der Bistromomy so ein perfektes Handwerk praktiziert wird“, sind Camdeborde und Sang beide überzeugt. „Aber die Spitzengastronomie“, so Camdeborde, „wird sich neu erfinden müssen, vor allem, was die hohen Kosten und Preise betrifft.“ Gut möglich also, dass auch in Zukunft kein gastronomischer Stein auf dem anderen bleiben wird.
www.pierresang.com www.brasseriecolette.de www.hotel-paris-relais-saint-germain.com

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