Die Gamechanger: 200 Jahre Gastronomie

Dunkle Wolken am Gastrohimmel und was die Nouvelle Cuisine mit dem nordischen Manifest zu tun hat. Die geschichte der Gastronomie in zwei Akten.
Jänner 11, 2017 | Text: Nina Wessely

Bartolomeo Scappi

Auftakt aus vergangener Zeit

Hinter dem Küchenpass der ewigen Jagdgründe gibt es wieder einmal Streit. Bartolomeo Scappi, der Verfasser der Kochbibel „Opera“, in der er erstmals zeigt, wie man exotische Gewürze und Pflanzen verwendet – und vor allem welche Teile davon –, wettert alleine gegen die Franzosen. „Die Wiege der Gastronomie liegt in Italien und nicht in Frankreich“, ruft der im Jahr 1500 Geborene.

„Das mag vielleicht sein“, kontert François-Pierre de la Varenne. Der 1615 in Dijon geborene Küchenchef gilt als Erfinder der Béchamel-Sauce. Der Name der Sauce ist übrigens eine Hommage an einen der ersten Essenstester der Geschichte, den Edelmann Louis de Béchamel. Dieser ist gerade nicht zugegegen. Er sitzt auf der Aussichtswolke mit Henri Gault und beobachtet, was gerade in den Küchen der Welt so passiert, und diskutiert Bewertungen. Zu seiner Zeit hätte es so ein Chaos über gerecht oder auch ungerecht vergebenen Sternen und Punkten nicht gegeben.

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Bartolomeo Scappi

Auftakt aus vergangener Zeit

Hinter dem Küchenpass der ewigen Jagdgründe gibt es wieder einmal Streit. Bartolomeo Scappi, der Verfasser der Kochbibel „Opera“, in der er erstmals zeigt, wie man exotische Gewürze und Pflanzen verwendet – und vor allem welche Teile davon –, wettert alleine gegen die Franzosen. „Die Wiege der Gastronomie liegt in Italien und nicht in Frankreich“, ruft der im Jahr 1500 Geborene.

„Das mag vielleicht sein“, kontert François-Pierre de la Varenne. Der 1615 in Dijon geborene Küchenchef gilt als Erfinder der Béchamel-Sauce. Der Name der Sauce ist übrigens eine Hommage an einen der ersten Essenstester der Geschichte, den Edelmann Louis de Béchamel. Dieser ist gerade nicht zugegegen. Er sitzt auf der Aussichtswolke mit Henri Gault und beobachtet, was gerade in den Küchen der Welt so passiert, und diskutiert Bewertungen. Zu seiner Zeit hätte es so ein Chaos über gerecht oder auch ungerecht vergebenen Sternen und Punkten nicht gegeben.

Mit „Der französische Koch“ lieferte François-Pierre de la Varenne eine Kochbibel für die Nachwelt.

Aber zurück zu Scappi, der immer noch mit erhobener Pfanne in der Rechten schreit: „Die Haute Cuisine ist italienisch!“ Varenne, der als einer der größten Köche seiner Zeit gilt (Anm. 1615-1678), macht Scappi auf den Widerspruch aufmerksam, dass sogar dieser als Italiener die Top-Gastronomie als „Haute Cuisine“ bezeichne.

François-Pierre de la Varenne

Denn die Anfänge lägen vielleicht in Italien. Doch dann, um 1600, als der Beruf des Kochs, vom Adel erschaffen, erstmals Form annimmt und Kochvirtuosen Edelmänner und -frauen einkochten, da war Frankreich am Zug. Und in Italien wurde es still. Scappi lässt die Pfanne sinken. Varenne klärt seine Schützlinge, die selbst im Jenseits noch nach dem Rezept suchen, das Louis de Béchamel als die beste aller Saucen bezeichnen soll, auf: „Es war damals en vogue, selbst nichts mehr tun zu müssen. Also musste auch jemand für den reichen Adel kochen. Die Position des Kochs war schon damals eine besondere und ehrenvolle. Immer neue Rezepturen waren gefragt.“

Um 1500 startete mit Scappi die Ära der Haute Cuisine in Italien.

Und wer etwas auf sich hielt, der sicherte diese in einem Buch für die Nachwelt. „So wie ich“, ruft François Massialot aus der Kühlkammer. Der 1660 in Limoges geborene Koch beglückte Imperialisten wie Philippe I. Grafen von Orléans und Bruder von Ludwig XIV. sowie den Cardinal d’Estrées mit seinen Gerichten. In seinen Kochbüchern wie „Le Cuisinier Roïal et bourgeois“ waren die Rezepte das erste Mal alphabetisch angeordnet. Ein Durchbruch, der eben auch in Frankreich passierte.

Da platzt Marie-Antoine Carême der Kragen. Wenn er nicht später geboren wäre, nämlich 1784, dann wäre ihm das doch auch sofort eingefallen, ruft der gebürtige Pariser. Schließlich ist auf ihn die bis heute gültige Ordnung des Tischgedecks zurückzuführen. Und Herrscher von Napoleon bis hin zum Zaren Alexander dem Großen hätten sich niemals über seine Speisen beschwert. Ganz im Gegenteil.
Dieses Gerangle um den besten aller Köche kann sich der Südfranzose Auguste Escoffier nicht mehr länger anhören: „An der Côte d’Azur, da, wo ich herkomme, da hätte es das niemals gegeben. Also alle wieder auf eure Posten“, die schließlich er höchstpersönlich definiert habe.

Auf Marie-Antoine Carême ist die Ordnung des Tischgedecks bis heute zurückzuführen.

Annoncieren, Positionen in der Küche und das Servieren von Gerichten in Gängen sind auf den Buddy von César Ritz, Auguste Escoffier, zurückzuführen. Gemeinsam haben sie die feine Gastronomie revolutioniert beziehungsweise neu geordnet und zugleich um mehrere Hunderttausend Euro betrogen.

Marie-Antoine Carême

Doch festnageln konnte die beiden ob ihrer Vergehen in England niemand. Ausnahme ist die Verehrung der australischen Sängerin Nellie Melba. Die war immer schon offiziell. Schließlich hat Escoffier ihr zu Ehren schon zu Lebzeiten (Anm.: 1846-1935) das noch heute auf manchen Karten vertretene Dessert „Pfirsich Melba“ kreiert. Er wolle ja nicht angeben, so der Virtuose, aber sein Werk „Guide Culinaire“ gelte bis heute als eines der größten Kochbücher aller Zeiten, so der Franzose, der sich stolzerfüllt seinen Schnauzer zurechtstreicht. Kurz darauf erstarren Lächeln und Schnauzer des Grand Cuisiniers.

Ein Koch muss frei sein, um gut zu kochen – sagt Fernand Point!

„Platz da, aus dem Weg! Ich brauche Butter“, ruft Fernand Point schon von Weitem. Und den braucht er auch – schließlich hat der Mann, der als Urvater der französischen Nouvelle Cuisine gilt, nie einen Hehl aus seiner Lieblingszutat gemacht: Butter. „Sie ist nun einmal der beste Geschmacksträger. Und liefert die Unterlage zu seinem täglichen Konsum von einer Flasche Champagner pro Tag“, hüstelt Escoffier. „Na und?“, donnert Point. „Das ist einer der größten Unterschiede zwischen Mensch und Tier: Wir können Freude am Trinken haben, ohne durstig zu sein. Das habe ich schon in meinem berühmten Kochbuch ‚Ma Cuisine‘ gesagt.“

Fernand Point

Der 1897 geborene Point hat in seinem Restaurant La Pyramide in Vienne die Ordnung Escoffiers auf den Kopf gestellt. „Wenn ich Koch bin, dann muss ich das die ganze Zeit über sein. Und ich muss mich bewegen können. Nur wenn ich frei bin in meinen Gedanken, kann ich auch kreieren, nicht wenn ich strengen Regeln und Rezepten folge.“ Escoffier schnaubt.

Eugénie Brazier (Anm.: 1895-1977), Kollegin von Fernand Point und erste 3-Sterne-Köchin Frankreichs, greift Escoffier beruhigend auf die Schulter: „Alles zu seiner Zeit.“ Escoffier seufzt und setzt sich zu Scappi auf eine Crême brulée, die ihnen François Massialot, als Erfinder dieses Klassikers, wie zu Lebzeiten zubereitet hat: „Diese Nouvelle Cuisine werde ich wohl nie verstehen.“

2. Akt: Die neue Küche

Nouvelle Cuisine, das Wort in aller Munde von 1965 bis heute: Weniger aufwendiges Kochen, mehr Nähe zum Produkt. Ergo weniger intensive Saucen, die das Produkt verdecken, sowie ständiges Tüfteln und Verwenden neuer Technologien. Es gab Zeiten, da verwendete Paul Bocuse sogar eine Mikrowelle in seiner Küche. Eine neue Art des Kochens damals: also nouveau, wie man in Frankreich sagt.

Drei Sterne seit 1967 und einer der Väter der Nouvelle Cuisine – Das ist das Vermächtnis der Familie Haeberlin.

Was die Nouvelle Cuisine betrifft, da halten ebenso die Franzosen das Zepter in der Hand. Granden wie Jean und Paul Haeberlin, Michel Guérard, Paul Bocuse, Alain Chapel, Jean und Pierre Troisgros sowie Roger Vergé und Gaston Lenôtre gelten als Väter der Nouvelle Cuisine. Eine Bewegung, die um 1965 entstand und bis heute die Gastronomie weltweit beeinflusst. Wobei der Name „Nouvelle Cuisine“ einem Journalisten zu verdanken ist: Henri Gault. Part eins von Gault & Millau, dem Restaurantguide, den dieser 1965 mit seinem Kumpanen Christian Millau gründete.

Henri Gault und Christian Millau

Zu dieser Zeit war der rote Guide Michelin, der bis 1931 ein blaues Cover hatte, schon lange etabliert und verteilte einen bis drei Michelin-Sterne für gehobene Res­taurants. Doch die Nouvelle Cuisine ging einher mit dem Werkeln der Foodkritiker Gault & Millau.

Die produktorientierte, frische und regionale Küche – und ja, das darf einem auch heute bekannt vorkommen – hatte mit Gault & Millau eine mediale Plattform und in Frankreich von Roanne, wo Jean und Pierre Troisgros die heutige La Maison Troisgros betrieben, bis hin nach Illhaeusern im Elsass, wo die Brüder Haeberlin aufkochten, kulinarische Stationen.

Sternekoch Michel Guérard veröffentlicht 1976 sein erstes Buch, „La Grande Cuisine Minceur“, übersetzt „Die leichte große Küche“. Viele sehen dieses heute als die erste Beschreibung der Nouvelle Cuisine an. Die Pâtisserie erhält mit Gaston Lenôtre einen Vertreter der Moderne, der sein Wissen auch in seiner Kochschule etwas außerhalb von Paris weitergab. Auch hier galt: weniger Fett und Zucker, dafür mehr Geschmack und frische Früchte. In Zeiten, in denen insbesondere in Deutschland Konserven gerade en vogue waren, eine ziemlich revolutionäre Ansicht.

Dem Koch, Verleger und Autor Alain Ducasse wurden als Erstem für drei Restaurants gleichzeitig dreimal drei Sterne verliehen.

Eckart Witzigmann, 1941 in Hohenems in Vorarlberg geboren, fand die Dosengeschichten schon damals weniger lustig und läutete als einer der ersten deutschsprachigen Köche die Tradition der Stages ein: von Bad Gastein über Davos in der Schweiz bis nach Illhaeusern im Elsass, wo Witzigmann als Schüler von Jean-Pierre und Paul Haeberlin das erste Mal mit der Nouvelle Cuisine in Kontakt kam. Danach ging es weiter nach Collonges-au-Mont-d’Or, wo der große Paul Bocuse noch heute mit drei Sternen dekoriert residiert. Witzigmann: „Von Paul Bocuse habe ich den Respekt vor dem Produkt gelernt.“

Eckart Witzigmann

Sein Aufstieg in der Heimat begann 1971 mit der Tätigkeit als Küchenchef im Münchner Tantris. 1974 war das Tantris dank ihm mit zwei Sternen ausgezeichnet. Die in Deutschland höchste Auszeichnung damals. Danach kam die Aubergine – Witzigmanns eigenes Restaurant. Bereits 1979 zeichnete der Guide Michelin die Aubergine und damit Eckart Witzigmann mit drei Sternen aus. Der Vorarlberger war damit der erste 3-Sterne-Koch im deutschsprachigen Raum. Sack und Pack geschultert und auf nach Frankreich.

Das dachte sich auch Heinz Winkler 1977 und lernte ein Jahr bei Paul Bocuse. Danach trat er Witzigmanns Nachfolge im Münchner Restaurant Tan­tris an, das 1982 schließlich mit dem dritten Stern ausgezeichnet wurde – als zweites Restaurant nach Witzigmanns Aubergine.

Doch nicht nur in Deutschland hatte man die steife gehobene Gastronomie satt. In der Schweiz brach Frédy Girardet mit den Konventionen und führte sein Restaurant Girardet bis an die Spitze. In Großbritannien zeigten Albert und Michel Roux, was die Nouvelle Cuisine in England alles kann: nämlich mit dem Restaurant Le Gavroche das erste 3-Sterne-Restaurant Großbritanniens werden.

Auch Italien kommt da wieder ins Spiel. Und zwar mit Gualtiero Marchesi. Der 1930 geborene Koch gilt als Vater der modernen italienischen Küche. Bartolomeo Scappi jubelt leise, um dann wieder in seiner Crème brulée zu versinken.

In Spanien findet die Nouvelle Cuisine mit Juan Mari Arzak und Pedro Subijana ihre Anhänger. Beide sind bis heute erfolgreiche 3-Sterne-Köche im Baskenland im Nordosten Spaniens.

Die drei Brüder Joan, Josep und Jordi beherrschen das Spiel der Gastronomie aus dem Effeff.

Die drei Brüder Joan, Josep und Jordi Roca beherrschen das Spiel der Gastronomie aus dem Effeff.

Alice Waters gilt in den USA als Pionierin der frischen, produktbezogenen Küche. Sie ist Mitbesitzerin der Restaurants Chez Panisse und außerdem Verfechterin der ersten Stunde von Bio-Lebensmitteln sowie der Förderung von ausgewogener Ernährung, insbesondere bei Kindern.

Das eigene Ding

Doch nur weil man Franzose ist, muss man nicht unbedingt nur Nouvelle Cuisine praktizieren. Das sahen heutige Größen wie Joël Robuchon und Pierre Gagnaire schon damals so. Ersterer startete 1960 mit dem Kochen, gründete 1981 sein eigenes Restaurant und ist heute mit 30 Michelin-Sternen weltweit der am meisten dekorierte Koch der Welt. Außerdem trägt Robuchon den Titel „Koch des Jahrhunderts“.

Joël Robuchon

Diese Ehre wurde außer ihm nur Paul Bocuse, Frédy Girardet und Eckart Witzigmann zuteil. Robuchon war der Erste und ist bis heute der Einzige, der gastronomisches Wachstum in diesen Dimensionen betreibt. 1989 war die Eröffnung des Château Restaurant Taillevent-Robuchon in Tokio Auftakt für die heute weltumspannende Gastro-Welt von Robuchon. Heute gibt es die Restaurants Joël Robuchon von Paris bis Las Vegas, ebenso wie die Ateliers de Joël Robuchon, die etwas legerere Variante des Robuchon-Dinings.

Dani Garcías Nitro-Tomate zählt zu den meistkopierten Gerichten der Welt.

Ähnlich hielt es Pierre Gagnaire. Der 1950 im Loire-Tal geborene Koch legte mit dem Restaurant Pierre Gagnaire im achten Pariser Arrondissement seinen ersten großen Coup hin. Er gilt als einer der Begründer der Fusionsküche – schließlich hat er heute mit Restaurants von Paris über London bis hin nach Las Vegas und Hongkong Einflüsse aus aller Welt in seinen Küchen. Sein Ansatz: „Ich wollte immer eine Küche führen, die den Blick nach vorne in die Zukunft gerichtet hat. Aber mit dem Respekt der Vergangenheit gegenüber.“

Schon davor, in den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts, zeigte ein gewisser Nobu, wie Fusionsküche funktioniert. 1973 zog der gebürtige Japaner Nobuyuki „Nobu“ Matsuhisa nach Peru, um dort ein japanisches Restaurant zu eröffnen. Die Zutaten, die er in Japan für selbstverständlich hielt, waren hier aber nicht so leicht zu finden. Et voilà – die Fusionsküche war geboren.

Nobu Matsuhisa

Von Peru ging es weiter in die USA, wo Nobu in Los Angeles bald einen der ultimativen Hotspots der Filmindustrie betrieb und dort auch Robert De Niro traf. Dieser überzeugte Nobu, in New York ein Restaurant zu eröffnen. Nobu-Style-Lokale in Mailand, Dubai, Mexiko, Budapest und Hongkong folgten.

Eher zu Hause hielt es den Autodidakten Michel Bras. 1946 in der Nähe von Toulouse geboren, eröffnete der Sohn eines Hufschmieds und einer Wirtin 1992 gemeinsam mit seiner Frau Ginette das Res­taurant Le Suquet. Bras gilt als der Wegbereiter der grünen Küche, in der Pflanzen und Kräuter die Hauptrolle spielen.

Ein allseits bekanntes Erbe des kreativen Naturliebhabers sind die Kleckse auf den Tellern und ein Dessert, das es inzwischen bis in jede Privatküche geschafft hat: das Coulant au Chocolat – der Kuchen mit dem weichen Schokokern. Doch ganz konnte es der Gas­tronom doch nicht lassen und eröffnete daher 2002 mit seinem Sohn Sébastien ein Restaurant in Japan. Passenderweise auf der Insel Hokkaido.

Pierre Gagnaire

Der nächste im Bunde der Nouvelle-Cuisine-eigenständigeren Franzosen ist Alain Ducasse. Er lernte zwar bei Vertretern der neuen französischen Küche, wie Michel Guérard und Alain Chapel. Sein Kochansatz geht aber über den der Nouvelle Cuisine hinaus: „Das Essen muss verständlich für alle sein. In der Einfachheit liegt die Kunst.“

Es war schon etwas mehr als nur dieses Credo, das ihn 2007 als Leiter von 30 Restaurants, fünf Hotels, drei Kochschulen und Verfasser zahlreicher Bücher zu einem der erfolgreichsten Köche aller Zeiten machte. Sein Buch „Grand Livre de Cuisine“ gilt seit der Veröffentlichung als ein Must-have der gehobenen Küche.

Der Siphon-Mann ist da

Ja und dann gab es in Spanien da so einen gewissen Ferran Adrià. Anfang der 90er-Jahre des 20. Jahrhunderts wunderte man sich nur, warum ein offensichtlich recht freakiger Koch Siphons und allerlei Zeug aus Laboren zu sich in die Küche nach Roses nahe Barcelona bestellte.

Ferran Adrià

Doch der Katalane sollte recht behalten und bald galt sein elBulli als das beste Restaurant der Welt, das innerhalb von wenigen Stunden für das gesamte Jahr ausgebucht war. Damals noch unter dem Titel Molekularküche dekonstruierte Adrià einzelne Gerichte, um sie wieder völlig verändert zusammenzusetzen, stellte Aggregatzustände infrage und kreierte heute allseits bekannte Küchenkniffe wie die Espumas und Sphären. Dieser Tage würde diese Küchenlinie auch niemand mehr als Molekular bezeichnen.

Viel zu sehr haben Medien und die Gesellschaft dem Ruf von Texturengebern auf natürlicher Basis geschadet. Heute läuft das Ganze unter dem Namen techno-emotionale Küche, der heutige Granden der Spitzengastronomie von den Roca-Brüdern in Girona bis hin zu Andoni Luis Aduriz in Errenteria gefolgt sind.

Befreiungsschrei: Die Köche stellen sich gegen Steinbutt auf Speisekarten von São Paulo bis Wien.

Das elBulli in Roses entwickelte sich ähnlich wie Jahrzehnte zuvor die Küche von Paul Bocuse oder Fernand Point zur regelrechten Eliteschmiede der Top-Köche. Jeder wollte eine Stage beim Großmeister machen, von René Redzepi aus Dänemark bis hin zu Grant Achatz aus den USA. Sie alle kamen, kochten, lernten – und spannen das Netz der techno-emotionalen Küche basierend auf den Erkenntnissen der Nouvelle Cuisine heute weiter.

Jeder auf seine Art. Heston Blumenthal begann in England, mit Texturen zu experimentieren, und gilt im Norden als einer der Pioniere der Molekularküche. Ebenso wie Grant Achatz in Chicago, der in seinem Res­taurant Alinea mit auf Tischen angerichteten Gängen und Heliumluftballons zum Essen von sich reden macht. Das Dreigestirn der Roca-Brüder war zudem unter den Ersten, die Sous-vide-Techniken massiv in ihre Küche einbauten.

Grant Achatz

Dani García entwickelte in Marbella die Nitro-Tomate, eines der angeblich meistkopierten Gerichte der Welt, und Sergio Herman tüftelte in Holland an seiner Version der techno-emotionalen Küche.

Der Gastro-Urknall

Von da an geht es Schlag auf Schlag – die Revolution, die Spanien mit dem Rütteln an Texturen und klassischer Küche angezettelt hat, startet ihre Weltreise. Den Begriff techno-emotional definierte Ferran Adrià selbst erst Jahre später. Zu einer Zeit, in der sowohl neue Techniken als auch emotionale Aspekte, wie Erinnerungen – Stichwort: die Lasagne der Großmutter – eine immer größere Rolle in der Top-Gastronomie einnahmen.

Die Welt rückt seit der Jahrtausendwende immer weiter zusammen. Das Dorf wird größer und doch kennt sich jeder. Von Sang-Hoon Degeimbre, der in Belgien als Erster mit seinen Kimchis und damit dem nächsten großen Ding, der Fermentation, aufhorchen ließ, bis hin zu Gastón Acurio, der in seinem Restaurant Astrid y Gastón in Peru auch noch die heimischen Produkte und die Verbundenheit mit der Region mit ins Boot holte.

Was liegt, das pickt

Saisonal und regional kochen – Dinge, die man schon in der Nouvelle Cuisine propagierte, sind seit Jahren wieder in aller Munde. Dem eines drauf setzte man in Dänemark mit dem New-Nordic-Food-Manifest – alles aus der Region. Ausschließlich. Und wenn es gerade nichts gibt, dann muss man eben Tannenwipfel kauen: Der nächste große Trend in der internationalen Spitzengastronomie.

Thomas Rode Anderson

Akteure der nordischen Küche von René Redzepi bis Rasmus Kofoed, allen voran aber Claus Meyer, Co-Gründer des Restaurants noma in Kopenhagen: Sie alle hatten genug von dem Steinbutt, der von Kopenhagen bis nach Mailand in den Top-Küchen zersäbelt wurde. Nachhaltig wollte man arbeiten, im Einklang mit der Natur.

Kochen ist Teamwork: Das ist in Frankreich, Spanien, Deutschland und Japan gleich.

Eine emotionale Ansicht, die schon lange auf die Gäste übergegangen ist, die daher nachfragen. Heute will man wissen, wo die Produkte herkommen, die man isst. Tiere sollen artgerecht aufwachsen und behandelt werden, das Gemüse bitte vom kleinen Produzenten nebenan sein und nicht vom Großmarkt.

Heinz Reitbauer

In Österreich ist es Heinz Reitbauer aus dem Restaurant Steirereck, der die Produzentenküche seit Jahren vorantreibt. Kleine Unternehmen mit dem Wissen um den Umgang mit hochwertigen Lebensmitteln. Da gebe es genug, so Reitbauer. Man müsse sich nur die Arbeit antun, diese zu suchen und zu finden. Aber es zahlt sich aus. Schließlich hat schon Paul Bocuse gesagt: „Ohne gutes Produkt keine gute Küche.“

Alex Atala hockt in Brasilien, am Amazonas im Paradies der ausgefallenen Südfrüchte, und wird ebenso wenig müde, die Qualität und Besonderheit dieser Pflanzen und Tiere zu betonen. Helena Rizzo ging durch die Schule der Rocas und eröffnete dann mit Dani Redondo, auch ein Roca-Jünger, das Restaurant Mani in São Paulo. Authentisch und locker geht es hier zu. Wie in immer mehr Küchen rund um den Erdball.

Peru hat mit Virgilio Martínez noch einen ganz wichtigen Vertreter der heimischen Küche an vorderster Küchenfront dazugewonnen. Das nutzen, was die Erde hergibt. Nachhaltig und bewusst. Aber mit Techniken bearbeitet und in Form gebracht, die über die Siphons von Adrià bis hin zu Fernand Points langsam gegartem Spiegelei zurückgehen. Detail am Rande: Jeder, der bei dem Granden der französischen Granden arbeiten wollte, musste als Einstellungs-„Gespräch“ ein Spiegelei zubereiten. Nur wenn das passte, hatte man eine Chance.

Die Welt der Gastronomie rückt immer näher zusammen und wird jeden Tag unterschiedlicher.

Die Schwierigkeit in der Einfachheit der Dinge erkennen. Das ist es, was Fernand Point genauso wie Joan Roca, Andoni Luis Aduriz und Massimo Bottura wollen. Und es ist das, was die Gäste wollen. Steife Tischdecken und noch steifere Mienen der Kellner – das ist von gestern. Die Leute heute wollen Spaß haben und ihre kulinarischen Erinnerungen erweitern. Mit einfachen Produkten und Gerichten aus der Region und Saison, die sich der Globalisierung nicht verschließen und trotzdem einzigartig sind.

Virgilio Martínez

Schon eine ziemliche Aufgabe für die aktuellen Akteure der Haute Cuisine, doch insgesamt eine Inszenierung, die man sich sehr gerne immer wieder in Uraufführungen, Neuinterpretationen und Improvisationsstücken gibt.

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