Kulinarik im Wandel: Was gestern gut war, ist längst gegessen

Genauso wie der Rolling Pin hat sich unsere Esskultur in den vergangenen 20 Jahren radikal verändert und weiterentwickelt. Man kann sogar sagen: Wir essen nicht mehr, als ob es kein Morgen gäbe, sondern damit es ein Morgen gibt. Warum nicht alle Lebensmittel für die Ewigkeit sind – und welche ganz besonderes Zukunftspotenzial haben.
Dezember 7, 2023 | Text: Lucas Palm | Fotos: Unsplash Damir Omerovic, Thomas Wunderlich, Unsplash Beth Macdonald, Unsplash Filipp Romanovski, Shutterstock (3), Nils-Hendrik Zuendorf, Noma, Das Noma-Handbuch Fermentation, Kunstmann Verlag, Shutterstock (2)

Alles hat seine Zeit, heißt es. Das scheint ganz besonders fürs Essen zu gelten. Zumindest, wenn man die vergangenen 20 Jahre Revue passieren lässt. Was ist nicht alles passiert seit dem Jahr 2003, dem Gründungsjahr des Rolling Pin. Kulinarisch jedenfalls, so viel steht fest, ist die Welt heute eine andere als damals. Das liegt in erster Linie daran, dass sie auch in allen anderen Bereichen eine andere geworden ist. Politisch. Gesellschaftlich. Klimatisch. Kulturell. Was wiederum auch in den zahlreichen Foodtrends zum Ausdruck kommt, die Hanni Rützler seit über 25 Jahren beschreibt. „In Foodtrends“, so die Gründerin und Leiterin des futurefoodstudios in Wien, „spiegeln sich sowohl Antworten auf Probleme unserer Esskultur und unseres Ernährungssystems wie auch Sehnsüchte und Wünsche von Konsumenten“.

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Regional, saisonal, umami und fermentationswürdig: Pilze vereinen so gut wie alle Attribute unserer neuen Esskultur und haben den vergangenen zwei Jahrzehnten ihren kulinarischen Stempel aufgedrückt.

Alles hat seine Zeit, heißt es. Das scheint ganz besonders fürs Essen zu gelten. Zumindest, wenn man die vergangenen 20 Jahre Revue passieren lässt. Was ist nicht alles passiert seit dem Jahr 2003, dem Gründungsjahr des Rolling Pin. Kulinarisch jedenfalls, so viel steht fest, ist die Welt heute eine andere als damals. Das liegt in erster Linie daran, dass sie auch in allen anderen Bereichen eine andere geworden ist. Politisch. Gesellschaftlich. Klimatisch. Kulturell. Was wiederum auch in den zahlreichen Foodtrends zum Ausdruck kommt, die Hanni Rützler seit über 25 Jahren beschreibt. „In Foodtrends“, so die Gründerin und Leiterin des futurefoodstudios in Wien, „spiegeln sich sowohl Antworten auf Probleme unserer Esskultur und unseres Ernährungssystems wie auch Sehnsüchte und Wünsche von Konsumenten“.

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Regional, saisonal, umami und fermentationswürdig: Pilze vereinen so gut wie alle Attribute unserer neuen Esskultur und haben den vergangenen zwei Jahrzehnten ihren kulinarischen Stempel aufgedrückt.

In ihrem alljährlich erscheinenden Food­report wagt die führende Foodtrend-Forscherin Europas auch immer einen differenzierten Blick in die Zukunft. „Es ist zwar schon einige Jahre her, dass ich den Begriff der ‚Kopernikanischen Wende‘ gebraucht habe“, erinnert sie sich. „Doch er ist heute aktueller denn je, vor allem, wenn man auf die vergangenen 20 Jahre zurückblickt.“

Aber was meint Rützler damit genau?

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Hanni Rützler ist Gründerin und Leiterin des futurefoodstudios

Die Kopernikanische Wende führte im 16. Jahrhundert zu einem völlig neuen Verständnis des Menschen von sich selbst. Indem bewiesen wurde, dass sich nicht alle Planeten um die Erde drehen, musste die Menschheit akzeptieren, dass sie nicht der Mittelpunkt des Universums ist. „Und genauso mussten auch wir in den vergangenen Jahren lernen, unsere Identität auf der Erde neu auszurichten, weil wir inzwischen wissen, dass wir das Tempo des Klimawandels selbst beeinflussen können und die Ressourcen unserer Erde endlich sind“, erklärt Rützler. Das alles hatte in den letzten zwei Jahrzehnten enorme Auswirkungen auf unsere Esskultur. Man isst nicht mehr, als ob es kein Morgen gäbe, sondern damit es noch ein Morgen gibt. Kurz: Das Essen ist heute mehr denn je ein moralischer, ja eigentlich ein politischer Akt. Ob uns das schmeckt oder nicht. Doch was bedeutet das genau auf Produktebene? Welche Lebensmittel sind die Gewinner dieser Entwicklung? Welche die Verlierer?

Superfoods aus der Provinz

In Zeiten, in denen jedem Gaumen ein Gewissen wächst, gibt es natürlich einen Verlierer: Fleisch. Ähnlich wie wir Menschen mussten in den vergangenen zwei Jahrzehnten auch Filet, Foie Gras und Co. quasi akzeptieren, dass sie nicht das Maß aller Dinge sind. „In der Gastronomie hat sich früher alles um Fleisch gedreht. Jetzt aber sehen wir, dass es auf den Tellern immer weiter in die Peripherie rückt“, sagt Rützler. „Es hat seine klassische Pole Position verloren.“

Doch die Angelegenheit mit dem Fleisch ist nicht nur weniger, sondern auch komplizierter geworden. Einerseits wäre da die Sache mit dem Geflügel. Im Gegensatz zu den klassischen Fleischsorten Rind und Schwein ist nämlich der Konsum von Hühner- und Putenfleisch nicht gesunken, sondern gestiegen.

In Deutschland hat er sich von 1991 bis 2022 fast verdoppelt. In Österreich ist er in derselben Zeitspanne immerhin konstant gestiegen. Warum? Hier zeigt sich, wie stark in den vergangenen zwei Jahrzehnten das Thema Gesundheit unsere Esskultur geprägt hat. Wenig Fett, viel Eiweiß, jede Menge Vitamine – der Kampf zwischen „gesund“ und „nachhaltig“ wurde erstaunlich oft zugunsten des „gesunden“, also nährstoffreichen, Lebensmittel entschieden. Das hat Hühnerfleisch und Co. auch mit den sogenannten Superfoods gemein, die in den 2010er-Jahren ihren Durchbruch erlebten. Dass all die exotischen Superfoods vom anderen Ende der Welt importiert wurden? Ganz gleich, Hauptsache gesund. So jedenfalls war das bis vor Kurzem.

„Außerhalb Frankreichs, wo sie als Kulturgut gilt, wird sie fast gar nicht mehr angeboten.“
Hanni Rützler über die Gänsestopfleber

Doch in den letzten Jahren hat ausgerechnet der Klimawandel unser Verständnis von Superfoods, nun ja, nachhaltiger gemacht. Der Grund: Die Bodentemperaturen unserer heimischen Ackerfelder steigen. Und eignen sich mittlerweile für Ingwer, Quinoa, Wasabi und Gojibeere. „Local Exotics“ nennt Hanni Rützler diesen Trend, der weit über die Superfood-Thematik hinausgeht – und uns in den vergangenen Jahren das Fremde aus der eigenen Heimat schmackhaft gemacht hat: von der Weinviertler Artischocke über die burgenländische Kiwi bis hin zur Wachauer Olive. Gut, das alles klingt jetzt danach, als hätten wir uns in den vergangenen Jahren lediglich von Hühnerfleisch, Superfoods und exotischen Produkten von heimischen Äckern ernährt. Das ist natürlich nicht so. Weswegen wir nochmals auf das komplizierte Thema Fleisch zurückkommen müssen.

Tschüss Stopfleber, hallo Dry Ager

Denn so sehr der klimapolitische Diskurs den Fleischkonsum verteufelt hat – nur weniger ist er deswegen nicht geworden. Sondern – richtig – auch nachhaltiger.  Ja, das geht, auch wenn es auf den ersten Blick widersprüchlich wirkt. Das zeigt sich am Erfolg von Nose-to-Tail. Jenem Ansatz also, wonach das ganze Tier als Edelteil wahrgenommen und verarbeitet wird – und nicht bloß das Filet und die anderen zwei, drei üblichen Cuts. Mit seinem Buch „The Whole Beast – Nose to Tail Eating“ legte Fergus Henderson 2004 den Grundstein für den weltweiten Erfolg dieses Verarbeitungsprinzips. Heute gilt es in vielen Spitzenküchen als selbstverständlich. Überhaupt: Die Fleischsensibilität ist in dieser Zeit enorm gestiegen.

War es dem Gast zu Beginn des Jahrtausends noch ziemlich egal, woher das Stück Fleisch auf seinem Teller kam, führt heute jeder Gastronom, der zumindest ein bisschen etwas auf sich hält, auf seiner Speisekarte die Herkunft des verarbeiteten Fleisches auf. Dabei geht es dem Gast nicht nur um Nachhaltigkeit, was die Transportwege betrifft, sondern auch um die Frage des Tierwohls. Ist das Fleisch bio? Esse ich ein Stück aus der Massentierhaltung?

Besonders deutlich zeigte sich die Moralisierung des Fleisch­essens am Beispiel der als Foie Gras bekannten Gänsestopfleber. Galt sie vor 20 Jahren noch als Inbegriff von kulinarischem Luxus, dient sie heute vielen als Symbol tierquälerischer Dekadenz. Regelmäßige Shitstorms und Verbotsdiskussionen sind die Folge. „Außerhalb Frankreichs, wo sie als Kulturgut gilt, wird Gänsestopfleber mittlerweile kaum mehr angeboten“, sagt Rützler. Tatsächlich haben in den vergangenen zwei Jahrzehnten viele Länder innerhalb und außerhalb der EU die Produktion von Stopf­leber verboten, Indien im Jahr 2014 als erstes Land der Welt auch Verkauf und Verzehr.

Jenseits der Foie-Gras-Debatte jedenfalls steht fest: Dem Fleisch wurde in den vergangenen zwei Jahrzehnten eine immer ehrfürchtigere Aufmerksamkeit entgegengebracht. Diese neue Wertschätzung für das Tier, das es zu essen gilt, führte nicht nur zur Entdeckung von neuen Cuts – wie etwa im Jahr 2002 des Flat Irons beim Rind, das heute als ein Standardcut gilt. Sondern auch zu einem Veredelungsfetisch, der die Fleischwelt unter dem Namen Dry Aging erobert hat. Dabei wird das Fleisch bei niedriger Temperatur und relativ hoher Luftfeuchtigkeit abgehangen, wodurch es an geschmacklicher Tiefe gewinnt. Genau genommen ist das sogar eine Vorstufe zur Fermentation. Womit wir bei einem weiteren wichtigen Thema der vergangenen 20 Jahre wären.

Höhenflug des Umami-Zaubers

Genau wie beim Dry Aging handelt es sich bei der Fermentation um eine uralte Kulturtechnik. Eine, die seit Beginn des neuen Jahrtausends die Art, wie und was wir essen, grundlegend verändert hat. Ein Zwei- oder Drei-Sterne-Restaurant ohne eigens fermentierte Produkte ist heute kaum mehr vorstellbar. Das Fermentieren gilt zwar als Grundpfeiler der Nordic Cuisine, die die vergangenen 20 Jahre unter gastronomischen Gesichtspunkten wohl am entscheidendsten geprägt hat, doch auch nicht nordisch ausgerichtete Konzepte haben ihren eigenen Fermentationsstolz entwickelt. Stellt sich die Frage: Warum?

Die einfachste Antwort lautet: umami. Süß, sauer, salzig, bitter – viele fermentierte Produkte vereinen alle Geschmacksrichtungen auf einmal. Sie sorgen damit für gustatorische Komplexität. Dadurch können kleinste Mengen an Zutaten einem Gericht das gewisse Etwas verleihen – von süßsaurem eingelegten Gemüse über Miso-Pasten, Fischgarums bis hin zu Soja-Saucen, die übrigens immer öfter in unseren Breiten hergestellt werden. Außerdem: Fermentierte Produkte gelten aufgrund ihres hohen Anteils an Probiotika nicht nur als herausragend gesund, sondern hinterlassen auch einen vergleichsweise geringen ökologischen Fußabdruck. Einige davon, wie etwa Tempeh – ein ursprünglich indonesisches Lebensmittel aus fermentierten Sojabohnen – erobern unsere heimischen Märkte erfolgreich als Fleischalternative. Und so viel solche Fleischalternativen in den vergangenen Jahren von sich reden gemacht haben – für Hanni Rützler ­werden sie unsere kulinarische Zukunft entscheidend prägen. 

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Vor 20 Jahren eine Nische – heute in jedem Sterne-Restaurant eine Selbstverständlichkeit: Fermentierte Produkte haben unsere Esskultur stark verändert. Die Geschmacksnoten von süßsauer Eingelegtem und – vor allem pflanzlichen – Produkten, die mit Schimmelpilzen wie Koji (oben) geimpft wurden, ebneten dem Umami-Geschmack den Weg zum weltweiten Erfolg.

Kostprobe der Zukunft: Zelluläre Landwirtschaft

Natürlich, da wären die Hülsenfrüchte, aus denen Start-ups und Konzerne seit einigen Jahren Burger-Patties, Chicken Wings und Schnitzel zaubern. Mit Erfolg: Einschlägigen Statistiken zufolge beläuft sich das weltweite Marktvolumen pflanzenbasierter Fleischersatzprodukte auf rund 13 Milliarden Dollar. Tendenz steigend. Doch Rützler macht sich mit Blick in die Zukunft auch Sorgen: „Durch die angespannte wirtschaftliche Lage drohen die guten und hochpreisigen Fleischersatzprodukte zu verschwinden“, sagt sie. „Das bereitet mir deswegen Sorge, weil es meines Erachtens für eine Marktbereinigung in diesem Segment viel zu früh ist.“

Doch Rützler blickt auch mit optimistischer Neugierde in die nächsten Jahre. Vor allem, weil diese aller Voraussicht nach von technologischen Umwälzungen geprägt sein werden, die unser Verhältnis zu tierischen Produkten neu definieren könnten. Zelluläre Landwirtschaft lautet das Schlagwort. Da wäre einerseits die Produktion von In-vitro-Fleisch, auch Laborfleisch genannt. Dabei wird Fleisch – das kann übrigens auch Fischfleisch sein! – mithilfe von Gewebezüchtung in vitro, also in einer kontrollierten, künstlichen Umgebung wie etwa einem Reagenzglas, gezüchtet. Damit würden bei der Fleischproduktion so gut wie keine Treibhausgasemissionen mehr anfallen – und auch die Sache mit dem Tierleid wäre, nun ja, gegessen. Weil es ja keine Tiere mehr dafür braucht. „Von Deutschland gibt es einen Antrag bei der EU, das Thema hat also Europa erreicht“, sagt Rützler.

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Der „kontrollierte Verfall“, wie Fermentation auch bezeichnet wird, hat im vergangenen Jahrzehnt nicht nur bei Gemüse für völlig neue Geschmacksbilder gesorgt, sondern auch bei Meeresfisch. Als „Ketchup der Antike“ bekannt, hat vor allem Fischgarum die Sterne-Küchen der Welt erobert – und Fische wie die Sardelle oder die Makrele in ein neues Licht gerückt.

„Und dann gibt es da noch die Präzisionsfermentation“, sagt Rützler und meint damit den zweiten Bereich der zellulären Landwirtschaft. Es handelt sich dabei um ein Fermentationsverfahren, das durch pflanzliche Nährstoffe und veränderte Bakterien Proteine herstellen kann, die bisher nur von tierischen Lebewesen erzeugt werden konnten. Etwa Molke und Kasein. „Dadurch lassen sich – verglichen mit der Aufzucht, Fütterung und dem Melken in der Viehzucht – der Produktionsaufwand für Milchprodukte und der CO2-Ausstoß reduzieren. Und es geht auch deutlich schneller: Die so produzierten Lebensmittelbestandteile können in wenigen Stunden geerntet werden“, erklärt Rützler.

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Den großen Durchbruch haben sie noch nicht gehabt – doch in den letzten Jahren wurden sie immer mehr angebaut und konsumiert: Algen sind nicht nur besonders klimaschonend im Anbau, sondern auch die einzige rein pflanzliche Vitamin-B12-Quelle.

Das Fazit aus heutiger Sicht lautet jedenfalls: So viel in den vergangenen 20 Jahren kulinarisch auch passiert sein mag, in gewisser Hinsicht stehen wir erst am Anfang. Oder wie Hanni Rützler voraussagt: „Die kommenden zwei Jahrzehnte werden für unsere Esskultur wohl noch ereignisreicher sein als die beiden vergangenen es schon waren.“

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Hanni Rützler
Die Gründerin und Leiterin des futurefoodstudios gilt als eine der führenden Foodtrend-Forscherinnen Europas. Seit über 25 Jahren seziert die gebürtige Vorarlbergerin unsere Esskultur aufs Genaueste – und wagt in ihrem alljährlich erscheinenden Foodreport immer auch einen differenzierten Blick in die Zukunft. An ihren kulinarischen Ausblicken orientieren sich Gastronomen und andere führende Akteure in der F&B-Branche. Im Jahr 2013 verkostete sie außerdem als einer der ersten Menschen weltweit In-vitro-Fleisch.

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