Gerhard Retter, der Retter der Gastro-Nation
Zwischen zwei Welten
Gerhard Retter wurde als perfekter Gastgeber mit Titeln überhäuft. Mit seinem Traditionsrestaurant Fischerklause am Lütjensee und dem Kultlokal Cordobar schafft er den Spagat zwischen norddeutscher Pampa und der Metropole Berlin – und öffnet seinen Blick auf die Lage der Gastro-Nation.
Es wird viel gejammert, wie schlecht die Gastronomie in Deutschland dasteht. Wie ist der Status quo wirklich?
Gerhard Retter: Der Status quo ist super. Es gibt so viel gute Gastronomie wie noch nie.
Zwischen zwei Welten
Gerhard Retter wurde als perfekter Gastgeber mit Titeln überhäuft. Mit seinem Traditionsrestaurant Fischerklause am Lütjensee und dem Kultlokal Cordobar schafft er den Spagat zwischen norddeutscher Pampa und der Metropole Berlin – und öffnet seinen Blick auf die Lage der Gastro-Nation.
Es wird viel gejammert, wie schlecht die Gastronomie in Deutschland dasteht. Wie ist der Status quo wirklich?
Gerhard Retter: Der Status quo ist super. Es gibt so viel gute Gastronomie wie noch nie.
Das klingt nach einem Aber.
Retter: Das kritischste Segment in der Gastronomie ist für mich, dass sie Tatsachen vorspiegelt, die nicht wahr sind. All den Junkfood-Produzenten kann man nicht vorwerfen, dass sie scheinheilig sind. Letztendlich ist jeder so mündig, dass er weiß, dass er Müll frisst. Die größte Problematik, die wir haben, ist eigentlich in der Mitte zu suchen, wo vorgespiegelt wird, gut zu kochen, aber letztlich ist es nur 08/15-Convenience.
Was läuft gerade hier schief?
Retter: Wichtig an der ganzen Geschichte ist, ähnlich wie beim Wein, es muss authentisch, ehrlich und nachvollziehbar sein. Wenn ich eine perfekte Käsekrainer mache, dann wird das auch laufen und honoriert. Die Menschen, die essen gehen, sind so bewusst geworden, dass sie einen Tag sagen „Heute fress ich Nuggets“, am nächsten Tag gehen sie ins 3-Hauben-Restaurant. Diese Flexibilität ist Usus. Es ist ein relativ sprunghaftes Konsumverhalten geworden, wobei sich die Menschen echt bewusst ernähren.
Die Frage bleibt dennoch: Was sind wir bereit, dafür auszugeben?
Retter: Die Scheinheiligkeit kriegen wir nie weg. Diese Bio- und Regionalschiene gibt es jetzt bei jedem Discounter, aber sie ist ja letztlich nichts anderes als vorher, nur mit einer anderen Maske. Regional ist heute das, wo der Konsument am meisten drauf anspringt, und dafür sind die Menschen auch bereit, mehr zu bezahlen. Dennoch muss immer alles verfügbar sein und das wird häufig auch nicht hinterfragt.
Das Essen ist ein Swingerclub geworden. Alles kann, nichts muss.
Gerhard Retter über Dekadenz und Regionalität auf dem Teller
Wie lässt sich dieses Konsumverhalten auf die Gastronomie übertragen?
Retter: Das ist in der Gastronomie diese eierlegende Wollmilchsau. Ein Betrieb, der alles abdeckt, das kann nicht funktionieren. Es muss eine Spezialisierung da sein. Wo man sich spezialisiert und seine Kernkompetenzen hinlegt, ist jedem selbst überlassen, aber es muss dann ehrlich und authentisch sein. Dann kommt auch der Erfolg.
Wenn es um die Kompetenz der Spezialisierung geht. An welchem Punkt stehen die Gastronomen da?
Retter: In den Metropolen ist es relativ einfach, weil dort die Vielfalt sowieso gegeben ist. Für uns in der Fischerklause in Norddeutschland ist die Speisekarte natürlich immer mit den Klassikern und den regionalen Spezialitäten gespickt. Der Aal, das Wild, der Karpfen, die Forellen. Ich lebe aber auch in diesem Speckgürtel von Hamburg, in dem es viele Menschen gibt, die die Welt gesehen haben. Die essen auch gerne das Authentische, aber wenn sie zehnmal im Monat kommen, wollen sie nicht immer den Karpfen essen. Der hängt denen dann zum Hals raus. Die möchten auch mal asiatisch gebeizten Lachs. Man muss also einen Spagat fahren, was nicht immer so leicht ist. Mein Markt verlangt das so und dessen muss ich mir bewusst sein.
Sind Gäste- und Standortanalyse also das A und O?
Retter: Es ist ein schmaler Grat. Sich in totale Prostitution zu begeben, das ist Wischiwaschi. Dann ist man morgen weg. Man muss einfach sagen: „Das machen wir. Dafür stehen wir und das wird auch so kommuniziert.“
Kommunikation ist also auch so ein Knackpunkt, bei dem sich die Gastronomie schwertut?
Retter: Das ist ein ganz großer Schwachpunkt von vielen Unternehmen. Allerdings nicht nur zu wenig Kommunikation, sondern meistens auch zu viel. Denn was man kommuniziert, das erweckt eine Erwartungshaltung und die muss mindestens erfüllt werden. Eigentlich muss sie übertroffen werden. Deswegen ist für mich persönlich Downgrading das Einzige, was funktioniert, weil es mir wesentlich lieber ist, wenn die Menschen in einen meiner Betriebe kommen und dann über den Anspruch hinaus überrascht sind, als wenn ich hinausposaune „Wir sind das Zentrum der Welt und du kannst hier super essen“. Und du erfüllst es dann nicht. Das ist Selbstmord.
Wie kommuniziert man Ihrer Meinung nach also richtig?
Retter: Klar, präzise, dass die Menschen wissen, was sie erwartet. Aber nur scheibchenweise, denn man muss immer was nachlegen können.
Aber wie ist das in der Luxusschiene umsetzbar?
Retter: Die Menschen sind irrsinning kritisch geworden. Ich bin selbst ein absoluter Foodie, ich habe in diesem Monat in fünf 3-Sterne-Laden gegessen. Es wird immer schwieriger für mich, noch absolute Euphorie zu entwickeln, weil man einfach schon verdammt viel gesehen hat und niemand das Rad neu erfinden kann. Hut ab vor den Kollegen, was die da abliefern, aber man ist ja ein Schwein und sagt: „O. k., das ist Standard.“
Aber was macht dann für Sie den feinen Unterschied aus, um sich abzusetzen?
Retter: Man wird von der Jakobsmuschel, dem Steinbutt, dem Kobe Beef beinahe überflutet. Bestimmt liegt auch da die Krux in einer nachvollziehbaren, authentischen Regionalität, die die Produkte von vor Ort auf dieses Niveau bringt. Ob der Michelin das honoriert, sei dahingestellt, aber der Gast tut es auf jeden Fall.
Downgrading ist das einzige, was funktioniert. Den Anspruch nicht zu erfüllen, ist Selbstmord.
Gerhard Retter über das richtige Maß an Kommunikation
Wird das Wort Regionalität inzwischen überstrapaziert?
Retter: Das Essen ist ein Swingerclub geworden. Alles kann, nichts muss. Man kann nicht immer Steinbutt oder Kaviar essen. Das fasziniert die Leute nicht mehr, deshalb muss man wieder eine neue Faszination entwickeln. Und das geht bis runter zu den Wirtshäusern. Das ist etwas, was letztlich unantastbar ist, wenn es gut gemacht ist. Zum Beispiel ein Zwiebelrostbraten mit Erdäpfeln und einem guten Salat. Die Ansprüche der Menschen sind hoch, aber doch ganz profan. Es muss gut gemacht sein und dabei geht es nur um die Umsetzung. Entscheidend ist, dass man seine Produkte ins richtige Licht rückt.
Wenn die Perfektion beim Essen ausgereizt ist, wodurch kann man dann noch glänzen?
Retter: Was noch lange nicht ausgereizt ist, ist der Service. Man kann perfekt kochen – ich war in einem 3-Sterne-Laden und das Essen war top. Aber diese Lokale werden aussterben, nicht jedoch die Küchenqualität. Es gibt wenig Plätze, wo dieses Gesittete, um nicht steif zu sagen, bleiben wird. Im Hotel Adlon zum Beispiel, aber da gehört es dazu. Da möchte man, dass die Kellner gut angezogen und versiert sind. Die Menschen möchten nicht auf Genuss und Qualität verzichten, aber der Zwang, der oft mit einer gewissen Etikette verbunden ist, ist für viele erdrückend.
International tut sich hier schon einiges. Was beobachten Sie?
Retter: Ein Punkt ist der Dresscode, der in Berlin relativ locker ist. Aber auch wenn man international schaut, ist alles aufgeweicht. Früher gab es Restaurants, da durfte man ohne Krawatte gar nicht rein. Das ist vorbei. An Bedeutung gewinnen das ganze Feeling und der Spirit, die ein Haus verbreitet – in der Optik, mit den Menschen, die dort arbeiten. Man will sich geborgen fühlen, diese Herzlichkeit spüren und nicht als Fremdkörper, schon gar nicht als Geldsack wahrgenommen werden. Auch im 3-Sterne-Laden. Es steckt so viel Macht im Service.
Aber wenn wir von der Gastronomie sprechen, nehmen die Sternerestaurants nur einen kleinen Teil ein. Wie schaffen das auch die kleinen Betriebe?
Retter: Oben ist alles glamourös, man kriegt viel Anerkennung und mediale Aufmerksamkeit. Natürlich hat die der kleine Wirt nicht. Im Gegenteil, da kommt der Bürgermeister und sagt: „Letztens, das Schnitzel war aber nicht so gut.“ Das ist die Realität, mit der man konfrontiert wird. Sich dabei diesen Idealismus zu bewahren, ist nicht leicht. Und deswegen sind das auch die wahren Helden der Gastronomie, die in dieser anonymisierten Masse von Verpflegungsgastronomiebetrieben ihren Job Tag aus, Tag ein machen und doch noch ein Herz für diesen Beruf haben. Obwohl die Anerkennung und der Verdienst meistens auch minimal sind. Wer sich dort die Freude bewahrt hat, das sind authentische, ehrliche Menschen.
Gibt es einen Faktor, von dem man Erfolg oder Scheitern in der Gastronomie abhängig machen kann?
Retter: Man kann die Gastronomie bestimmt nicht neu erfinden, muss man auch nicht. Es sind ganz simple Faktoren: Authentische, ehrliche Qualität in jedem Segment und eine Grundherzlichkeit – und die ist eng mit dem Erfolg verbunden. Für mich gibt es nur eine Wahrheit: Finde den Weg zum Herzen deines Gastes. Man muss ihm eine vorübergehende Heimat geben. Er muss wissen, meine Wirtsstube ist sein Wohnzimmer.