Legenden: Frédy Girardet
Ein Mahl als Damaskuserlebnis
Jahrhundertkoch, das ist ein ebenso imposantes wie einschüchterndes Wort. Paul Bocuse, Joël Robuchon, Eckart Witzigmann – noch heute läuft jedem Kenner das Wasser im Mund zusammen, sobald er die Namen der illustren Kochkolosse hört, die mit diesem so seltenen Prädikat zu kulinarischen Erzlegionären geschlagen wurden. Das ist beim vierten im Bunde anders. Frédy Girardet ist ohne Zweifel der unbekannteste – weil leiseste – der vier Jahrhundertköche. Nachdem er bereits 1996 sein sagenumwobenes Restaurant Girardet verkauft hatte, zog er sich, anders als Bocuse und Co., auch medial vollkommen zurück. „Es gibt zu viele sogenannte Stars unter den Köchen“, gibt Girardet etwas hieroglyphisch zur Antwort, als wir telefonisch um ein Interview anfragen. „Ich habe damit nichts am Hut.“
„Es geht um die Suche nach Einfachheit, die nur mit enorm viel Arbeit zu erreichen ist.“ Mit seiner Cuisine spontanée revolutionierte der stille Jahrhundertkoch Frédy Girardet die europäische Spitzengastronomie nachhaltig.
Wie dem auch sei: Angefangen hat alles im burgundischen Roanne. Der jugendliche Frédy – der im Lausanner Restaurant Le Grand Chêne seine Lehre als Koch machte – ist gerade auf der Durchreise in Burgund, um für seinen Vater, von dem er bald das Restaurant de l’Hotel de Ville übernehmen wird, Weine einzukaufen. Für Girardet eher Pflicht als Neigung, denn damals ist er drauf und dran, eine Karriere als Fußballspieler einzuschlagen.
Dass er den Lederball gegen den Kochlöffel eintauschen wird, ist einem Winzer zu verdanken, der ihn kurzerhand dorthin mitnimmt, wofür das burgundische Nest Roanne noch heute bekannt ist: in den Gourmettempel La Maison Troisgros. Das Mahl, das der ehrgeizige Athlet dort zu sich nimmt, beschreibt Girardet – der sich letztlich doch zu einem Interview überreden ließ – als eine spirituelle Erfahrung: „Dieser Restaurantbesuch war enorm wichtig für meine gesamte spätere Arbeit – eine solche Küche kannte man damals in der Schweiz einfach noch nicht.“
Spontanität aus der Pfanne
Es war im Jahr 1965, als der Vater unerwartet mit gerade einmal 56 Jahren stirbt – und der mittlerweile ausgelernte Girardet junior kühn das Küchenzepter im Hotel de Ville in Crissier übernimmt. 1971 lässt Girardet die Räumlichkeiten umbauen und gründet damit sein eigenes High-End-Restaurant. Innerhalb kürzester Zeit entwickelte sich das Girardet zu einem Epizentrum der Nouvelle Cuisine.
Kultgerichte aus den Händen des Meisters wie Cassolette de truffes aux cardons zeugen vom damaligen kulinarischen Paradigmenwechsel, den Girardet als einer der Ersten und vor allem meistgeschätzten einläutete: Schluss mit unnötig schweren, mit Mehl gebundenen Saucen, hin zu einer leichten Küche, in der das beste Produkt gerade gut genug ist und erst in seiner puristischen Zubereitung komplexe Aromenspiele ermöglicht. Girardets Schaffen mündete schließlich in das prägende Genre der sogenannten Cuisine spontanée als der spontanen Küche, die er folgendermaßen beschrieb: „Es geht dabei um die Suche nach Einfachheit, die nur mit enorm viel Arbeit zu erreichen ist – diese wiederum muss möglichst unsichtbar bleiben.“ Wie es scheint, hegt Girardet also nicht erst seit seinem Rückzug eine Vorliebe für die Unsichtbarkeit.
Trotzdem – oder gerade deswegen – häuft sich ab Mitte der 1970er eine Auszeichnung nach der anderen: 1975 wurde ihm der Clé d’or vom Gault Millau verliehen, 1986 erkochte er – eine Sensation in der Schweiz – 19,5 Punkte im Gault Millau, die er bis zu seinem Rückzug 1996 hielt, und 1987 wurde Girardet schließlich der Titel Jahrhundertkoch verliehen, 1994 der dritte Michelin-Stern.
Bereut Girardet es heute, auf der Höhe seines Schaffens mit gerade einmal 60 Jahren einen so radikalen Schlussstrich unter seine berufliche Laufbahn gezogen zu haben? „Natürlich tut es mir bis heute leid“, gibt der Jahrhundertkoch unumwunden zu, „vor allem um die tägliche Arbeit und die Gäste, zu denen ich, wie damals üblich, oft eine persönliche Beziehung hatte. Aber ich koche weiterhin täglich, wenn auch nur zu Hause.“ Girardets Abschlussworte mögen wehmütig klingen – so ganz wird man beim stillsten und medienscheusten aller Jahrhundertköche jedoch den Eindruck nicht los, dass ihm der Herd im stillen Kämmerlein doch lieber ist als all das Blitzlichtgewitter, das ihn in seinem Gourmettempel ohne Zweifel heimsuchen würde.