Vilhjalmur Sigurdarson sucht das Glück

Isländischer Wahlflame: Vilhjalmur Sigurdarson versucht als erbarmungsloser Lokalist, das kulinarische Belgien zu revolutionieren.
Feber 2, 2017 | Text: Georg Hoffelner | Fotos: Monika Reiter, Heikki Verdurme, Michael Dehaspe

Vilhjalmur Sigurdarson

Philosophischer Querkopf

Vilhjalmur Sigurdarson vom Restaurant Souvenir in Ypres ist einer von 25 Kitchen Rebels unter 35 Jahren, die sich in Flandern zusammengetan haben, um der Liebe zu Gemüse zu frönen und den Nose-to-tail-Gedanken hinaus in die weite Welt zu tragen. Der 30-jährige Isländer zählt zu den kritischsten Köpfen der Benelux-Staaten und nimmt sich auch in puncto Guide Michelin kein Blatt vor den Mund.

Jo Bussels, Christophe Van den Berghe und Frederick Dhooge, zuletzt Karen Keyngaert: Alle haben in den letzten Jahren ihre Sterne abgegeben. Was geht da gerade im belgischen Fine Dining ab?
Vilhjalmur Sigurdarson: In Belgien haben wir leider schwerwiegende Probleme. Die Kosten für Restaurantbetreiber steigen permanent, die Produkte werden ständig teurer und dadurch wird auch der Druck auf Gastronomen immer größer. Es ist also ein wirklich schweres Pflaster geworden, um Geld zu verdienen. Ich will jetzt keine depressive Stimmung verbreiten, aber ich glaube tatsächlich, dass wir in einer Zeit leben, wo wir die letzte Generation sein könnten, die Essen noch in Restaurants zu sich nimmt. Das Restaurantbusiness heutzutage ist kontraintuitiv. Aus einem ökonomischen Standpunkt heraus betrachtet macht ein Restaurant keinen Sinn. Hier in Belgien haben in den letzten 16 Monaten neun Sternerestaurants zugesperrt und ihr Konzept geändert. Die meisten machen jetzt auf Brasserie. So wie Fine Dining heute aufgestellt ist, klappt das nicht mehr lange. Es ist zu personal-, zu arbeitsaufwendig. Letztendlich kann man die geforderten Extras dem Kunden nicht verrechnen. Das ist früher oder später frustrierend. Auch für mich.

Dabei hat Ihre Leidenschaft fürs Kochen sehr unbeschwert begonnen? 
Sigurdarson: Ich habe studiert und nebenbei an den Wochenenden in Restaurants gearbeitet. Und eigentlich haben mir die Wochenenden immer besser gefallen als das Studieren unter der Woche. Das habe ich teilweise richtiggehend gehasst. Und da fragt man sich, warum macht man etwas, das man liebt, um das zu finanzieren, was man hasst? Das war der Moment, wo ich beschlossen habe, mit dem Studium aufzuhören, um Kochen zu erlernen. Und ich wusste schon damals, dass das Erfolg haben wird, da ich es einfach schon immer geliebt habe zu kochen. Und wenn man etwas mit so einer Leidenschaft macht, kann man ab einem gewissen Punkt auch kaum etwas falsch machen.

Vilhjalmur Sigurdarson

Philosophischer Querkopf

Vilhjalmur Sigurdarson vom Restaurant Souvenir in Ypres ist einer von 25 Kitchen Rebels unter 35 Jahren, die sich in Flandern zusammengetan haben, um der Liebe zu Gemüse zu frönen und den Nose-to-tail-Gedanken hinaus in die weite Welt zu tragen. Der 30-jährige Isländer zählt zu den kritischsten Köpfen der Benelux-Staaten und nimmt sich auch in puncto Guide Michelin kein Blatt vor den Mund.

Jo Bussels, Christophe Van den Berghe und Frederick Dhooge, zuletzt Karen Keyngaert: Alle haben in den letzten Jahren ihre Sterne abgegeben. Was geht da gerade im belgischen Fine Dining ab?
Vilhjalmur Sigurdarson: In Belgien haben wir leider schwerwiegende Probleme. Die Kosten für Restaurantbetreiber steigen permanent, die Produkte werden ständig teurer und dadurch wird auch der Druck auf Gastronomen immer größer. Es ist also ein wirklich schweres Pflaster geworden, um Geld zu verdienen. Ich will jetzt keine depressive Stimmung verbreiten, aber ich glaube tatsächlich, dass wir in einer Zeit leben, wo wir die letzte Generation sein könnten, die Essen noch in Restaurants zu sich nimmt. Das Restaurantbusiness heutzutage ist kontraintuitiv. Aus einem ökonomischen Standpunkt heraus betrachtet macht ein Restaurant keinen Sinn. Hier in Belgien haben in den letzten 16 Monaten neun Sternerestaurants zugesperrt und ihr Konzept geändert. Die meisten machen jetzt auf Brasserie. So wie Fine Dining heute aufgestellt ist, klappt das nicht mehr lange. Es ist zu personal-, zu arbeitsaufwendig. Letztendlich kann man die geforderten Extras dem Kunden nicht verrechnen. Das ist früher oder später frustrierend. Auch für mich.

Dabei hat Ihre Leidenschaft fürs Kochen sehr unbeschwert begonnen?
Sigurdarson: Ich habe studiert und nebenbei an den Wochenenden in Restaurants gearbeitet. Und eigentlich haben mir die Wochenenden immer besser gefallen als das Studieren unter der Woche. Das habe ich teilweise richtiggehend gehasst. Und da fragt man sich, warum macht man etwas, das man liebt, um das zu finanzieren, was man hasst? Das war der Moment, wo ich beschlossen habe, mit dem Studium aufzuhören, um Kochen zu erlernen. Und ich wusste schon damals, dass das Erfolg haben wird, da ich es einfach schon immer geliebt habe zu kochen. Und wenn man etwas mit so einer Leidenschaft macht, kann man ab einem gewissen Punkt auch kaum etwas falsch machen.

Vilhjalmur Sigurdarson

Warum haben Sie dann eigentlich Island verlassen?
Sigurdarson: Mein damaliger Lehrmeister hat rasch bemerkt, dass er mir nicht mehr viel beibringen konnte, und hat mich coolerweise zu einem Freund namens Aggi Sverrisson nach London geschickt, bei dem ich dann in seinem Sternerestaurant Texture gearbeitet habe. Dort habe ich erst realisiert, wie groß die kulinarische Welt wirklich sein kann. Vor allem im Vergleich zu Island, wo es tatsächlich wenige Spitzenrestaurants gibt und die Produktvielfalt auch nicht gerade die größte ist. Danach habe ich in Island meine Lehre fertig gemacht und sofort kapiert, dass das mit meiner Heimat nicht klappen wird. Alles zu klein und zu limitiert.

Wie sind Sie eigentlich letztendlich in Flandern gelandet?
Sigurdarson: Ich habe eine Liste mit Restaurants und Köchen aufgestellt, bei denen ich mitarbeiten wollte, weil sie meiner Meinung nach wirklich etwas bewegen. Ganz oben auf der Liste stand Kobe Desramaults mit seinem In de Wulf. Ich habe ein Mail hingeschrieben und bereits einen Tag darauf wurde ich für eine Probewoche eingeladen. Also habe ich sofort den Job in Island quittiert, mein Auto verkauft und die Wohnung aufgelöst. Ich habe mir dann ein One-way-Ticket nach Belgien besorgt, da ich wusste, ich will, dass meine Vision funktioniert. Ich hatte keinen Back-up-Plan. Das ist es, was ich werden will, dort will ich hin: Ich gebe mein Bestes und versuche es einfach. Nach der Probewoche kam Kobe zu mir und fragte: „Und was wirst du jetzt machen? Wirst du ein bisschen herumreisen, dir etwas anschauen?“ Und ich meinte nur: „Nein. Eigentlich will ich gleich hierbleiben!“ Und er schaute mich an wie einen Freak und meinte: „Dann bleib noch ein paar Wochen und wir schauen einmal!“ Nach zwei Wochen war ich fix engagiert und blieb letztendlich zwei Jahre.

Auch Gert De Mangeleers Hertog Jan war eine Station, bevor das eigene Restaurant Souvenir kam. Wie hat es Sie aber ausgerechnet nach Ypres verschlagen?
Sigurdarson: Meine Frau war damals im TV-Business als Produzentin tätig und hatte ein Burn-out. Deshalb überlegten wir uns, wie wir unsere gemeinsame Zukunft gestalten werden. Wir wollten vor allem ein gemeinsames glückliches Leben haben. Da ich immer an den Wochenenden arbeiten musste, haben wir uns natürlich nicht sehr oft gesehen und das war scheiße. Darum haben wir uns überlegt, gemeinsam ein Restaurant aufzumachen. In ihrer Heimatstadt Ypres hatte sich das herumgesprochen und wir wurden von einem Gastronomenehepaar angerufen, das sich zur Ruhe setzen wollte. Das Restaurant hatte Potenzial und darum haben wir sofort zugesagt. Als wir wieder draußen auf der Straße waren, sahen wir uns an und dachten nur: „Fuck. Wie wollen wir das jetzt finanzieren?“ Meine Frau verkaufte ihr Haus und wir haben eine Bank gefunden, die uns einen Kredit gab, und seitdem kämpfen wir uns mal besser, mal schlechter durch.

Auf der Suche nach dem Glück

Und hat das mit dem glücklichen Leben funktioniert?
Sigurdarson: Manchmal frage ich mich wirklich, ob ich jemals realisieren werde, wie dumm das eigentlich war. Hätten wir damals gewusst, wie anstrengend alles wird, hätten wir bestimmt nicht den Mut gehabt. Manchmal muss man eben einfach mit wehenden Fahnen drauflosrennen, ohne großartig über die Zukunft nachzudenken. Innerhalb von zwei Monaten haben wir buchstäblich jede Wand auseinandergenommen und die ganze Location komplett renoviert. Bereits fünf Wochen nach der Eröffnung bekamen wir unser erstes Kind. Das war also alles nicht so richtig durchgeplant. Wir haben mittlerweile zwei Kinder, aber beide Kids sind die glücklichsten Unfälle meines Lebens. Die ersten eineinhalb Jahre waren auch gleich sehr erfolgreich. Gault Millau hat uns unmittelbar zur Entdeckung des Jahres ernannt und auch die Opinionated-about-Dining-Liste hat uns unter die neun besten Neueröffnungen gereiht. Das war schon ziemlich cool!

Sie arbeiten vor allem mit Gemüse aus der Region, oder?
Sigurdarson: Stimmt. Die Hälfte unseres Menüs ist immer vegetarisch. Wir sind hier wirklich im Epizentrum der Landwirtschaft. Das ist fantastisch. Wir arbeiten mit einigen ganz besonderen Produzenten zusammen, die ich wahnsinnig in mein Herz geschlossen habe. Das ganze Jahr hindurch. Es wird also nichts im Großmarkt gekauft, was keine Saison hat.
Hat man keine coolen Produkte, ist man nur ein Typ in lustigem Outfit!
Vilhjalmur Sigurdarson über tolle Produzenten
Das kann aber ganz schön einschränken.
Sigurdarson: Aktuell gibt es bei uns vor allem Rote Bete und Karotten. Aber ich würde nie woanders meine Ware kaufen, denn diese Farmer sind unsere Freunde, unsere Nachbarn. Ihre Kinder gehen in die gleiche Schule wie die meinen. Es gibt, wenn wir ehrlich sind, doch keine großen Chefs ohne großartige Produzenten. Das darf man nie vergessen. Hat man keine coolen Produkte, ist man nur ein Typ in einem lustigen Outfit.

Wie sehr kann man sich aber auf einige wenige Produzenten verlassen?
Sigurdarson: Dazu gibt es eine witzige Geschichte: Ich saß mit Kobe Desramaults zusammen und wir tranken Gin Tonic, unterhielten uns und gegen ein Uhr nachts schreckte er hoch. Er habe vergessen, etwas bei unserem Produzenten zu bestellen. Also schrieb er ihm eine kurze SMS. Keine zwei Minuten später – man bedenke: um ein Uhr nachts – rief er an. Als der Koch auflegte, erzählte er mir, dass der Bauer gerade auf dem Feld unterwegs sei, um die vergessenen Blüten zu pflücken. Nachts. Um eins. Mit Stirnlampe. Im Regen. Ich war total beeindruckt. Wenn ich also denke, dass ich im Ausland einfacher, schneller und weniger aufwendig bestellen und einkaufen könnte, erinnere ich mich an diese Situation. Er lässt den Pflanzen Zeit, um zu wachsen, und geht unendlich auf uns ein – wie kann ich mich da von ihm abwenden?
Vilhjalmur Sigurdarson

Werden gewisse Produkte irgendwann für einen selbst nicht eintönig?
Sigurdarson: Jedes Jahr im April kann ich schon keine Rote Bete mehr sehen. Aber dann wird es Dezember und man hält die ersten in der Hand und man fühlt sich wieder wie ein Kind im Süßwarenladen. Ich bin jedes Mal aufs Neue fasziniert, wenn die Jahreszeiten wechseln.

Jedes Jahr erscheint auch der Guide Michelin, in dem Sie auch im letzten Jahr nicht dabei waren. Wie kann das sein?
Sigurdarson: Es gibt Hardcore-Unterschiede bei den Guides von Michelin, wenn man die Bewertungen rund um den Globus vergleicht. Da bekommt etwa ein Dim-Sum-Stand einen Stern. Oder ein Tempura-Lokal zwei Sterne. Erzähl das mal Redzepi! Aber vor allem hier in den Benelux-Staaten spiegelt der Guide ein komplett falsches Bild der Gastronomie unserer Länder wider. Eigentlich ist ja auch nichts Falsches an der Entscheidung der Tester. Man muss sie respektieren. Aber es ist die Tragweite über den ökonomischen Erfolg mancher Restaurants, die fatal ist. Und darum ist es schade, dass hier in Belgien vor allem sehr antiquierte Konzepte hochgelobt werden und neue, frische Konzepte nicht die nötige Anerkennung kriegen. Hätte Kobe Desramaults etwa drei Sterne bekommen, bin ich mir sicher, dass es sein Restaurant noch geben würde. Und die drei Sterne hätte er sich verdient, denn er spiegelt genau das wider, was eigentlich der Sinn des Guide Michelins ist. Er ist es wert, dass man zu ihm fährt.

Wenn Sie einen Stern bekommen sollten, würden Sie ihn annehmen?
Sigurdarson: Würde der Guide Michelin mir einen Stern verleihen, würde ich Danke sagen. Aber ich würde nicht wie ein verdammter Affe im Kreis herumtanzen vor Freude. Wenn sie ihn mir geben, habe ich ihn mir verdient. Punkt.

Ihr primäres Ziel ist es, mit Ihrer Frau und den Kindern glücklich zu sein. Wie wollen Sie dem Ziel auch beruflich näher kommen?
Sigurdarson: Meine Frau und ich überdenken gerade wieder einmal unsere Zukunft. Wir sind nun drei Jahre mit dem Souvenir selbständig und werden das noch zwei weitere Jahre machen. Dann wollen wir etwas Neues starten. Wir sind nach wie vor stolz auf das, was wir tun, und wollen es noch weiterführen. Aber wir spüren, dass es auf Dauer so nicht funktionieren kann. Wir wollen ein kleines Lokal eröffnen, das nur ich und meine Frau alleine betreiben. Hier in Belgien ist es verdammt teuer, Leute anzustellen. Wir haben auch das teuerste Steuersystem der Welt, was es einem auch nicht gerade leichter macht. Und ich habe irgendwie das Gefühl, dass lange Tasting-Menüs, bei denen man mehrere Stunden sitzt, ein Ablaufdatum haben. Wir wollen also ganz einfach geniales Essen machen, Die Gäste und uns selbst glücklich machen und die Produzenten um uns herum unterstützen! Dann sind nämlich alle happy. Auch wir.
www.souvenir-restaurant.be

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