Wie Heston Blumenthal mit einer Frage die Küche neu definierte

Die britische Krone erlaubte ihm ein eigenes Wappen zu tragen, der große Ferran Adrià bezeichnete ihn als „Genie, das die Welt der Kulinarik geprägt hat“. Tatsache ist, dass uns Heston Blumenthal Geschmäcker geschenkt hat, die es vor ihm nicht gab. Er sagt, daran sei sein Credo „Hinter­frage alles“ schuld. Und eine besondere Superkraft.
Oktober 17, 2024 | Text: Johannes Stühlinger | Fotos: Julia Losbichler, The Fat Duck, Dinner by Heston Blumenthal, Sergio Coimbra, Julian Abrams, beigestellt

Es klingt irgendwie so einfach, so logisch. Und doch muss man das Lebensmotto von Heston Blumenthal bewusst wahrnehmen, um es wirklich verstehen zu können: „Question everything!“, also „hinterfrage alles!“. Denn dieses Hinterfragen fußt nicht auf einer philosophischen These, sondern auf knallharter experimenteller Küchenrealität. Long story short: Weil er einst in 15 Kochbüchern 15 verschiedene Rezepte für Vanilleeis gefunden hatte, begann Heston zu überlegen, welche Rolle Zutaten und Techniken über den reinen Geschmack hinaus spielten. Das machte ihn schon in jungen Jahren zum Tüftler.

Als er dann in einem italienischen Kochbuch aus dem 19. Jahrhundert auf ein Rezept für ein Parmesan-Eis stieß, fragte er sich ganz konkret: Warum muss Eis eigentlich immer süß sein? Darauf basiert schließlich sein Credo und sein unfassbarer Erfolg, Geschmäcker zu kombinieren, die vor ihm noch nie jemand kombiniert hatte.

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Sein ganzes Leben lang vermengt Heston Blumenthal Kunst, Küche und Wissenschaft miteinander. Daraus resultiert sein ultimatives Credo „Hinterfrage alles!“, das der Welt eine Vielzahl an spektakulären Gerichten und Geschmäckern bescherte

Heute gilt der 58-Jährige als Wegbereiter der modernen Küche, als Visionär und Türöffner. Gleichzeitig aber ist in ihm nach wie vor der Wissenschaftler, der Alchemist, als der er oft bezeichnet wird, ständig am Tüfteln und Denken. Das verdankt er einer Fähigkeit, die er selbst als Superkraft bezeichnet. Ein Gespräch über Visionen, Schwierigkeiten, Sinnlichkeiten und ganz besondere Ehren.

Es klingt irgendwie so einfach, so logisch. Und doch muss man das Lebensmotto von Heston Blumenthal bewusst wahrnehmen, um es wirklich verstehen zu können: „Question everything!“, also „hinterfrage alles!“. Denn dieses Hinterfragen fußt nicht auf einer philosophischen These, sondern auf knallharter experimenteller Küchenrealität. Long story short: Weil er einst in 15 Kochbüchern 15 verschiedene Rezepte für Vanilleeis gefunden hatte, begann Heston zu überlegen, welche Rolle Zutaten und Techniken über den reinen Geschmack hinaus spielten. Das machte ihn schon in jungen Jahren zum Tüftler.

Als er dann in einem italienischen Kochbuch aus dem 19. Jahrhundert auf ein Rezept für ein Parmesan-Eis stieß, fragte er sich ganz konkret: Warum muss Eis eigentlich immer süß sein? Darauf basiert schließlich sein Credo und sein unfassbarer Erfolg, Geschmäcker zu kombinieren, die vor ihm noch nie jemand kombiniert hatte.

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Sein ganzes Leben lang vermengt Heston Blumenthal Kunst, Küche und Wissenschaft miteinander. Daraus resultiert sein ultimatives Credo „Hinterfrage alles!“, das der Welt eine Vielzahl an spektakulären Gerichten und Geschmäckern bescherte

Heute gilt der 58-Jährige als Wegbereiter der modernen Küche, als Visionär und Türöffner. Gleichzeitig aber ist in ihm nach wie vor der Wissenschaftler, der Alchemist, als der er oft bezeichnet wird, ständig am Tüfteln und Denken. Das verdankt er einer Fähigkeit, die er selbst als Superkraft bezeichnet. Ein Gespräch über Visionen, Schwierigkeiten, Sinnlichkeiten und ganz besondere Ehren.

Rolling Pin: Gleich zu Beginn eine Frage, die irgendwie die Spitze deiner Leistung markiert: Das britische Amt für Heraldik gewährte dir das Recht, ein eigenes Wappen zu führen. Was bedeutet das und was zeigt dein Wappen?
Heston Blumenthal: Ich habe mir niemals erwartet, dass mir solch eine Ehre zuteil werden würde. Man muss sich vorstellen, dieses Wappen ist nicht nur für mich, das wird immer das Wappen meiner Familie sein. Das macht mich sehr, sehr stolz. Allerdings hat diese Ehre auch eine Verpflichtung mitgebracht, schließlich sollte dieses Wappen mich spiegeln und meine Philosophie in seiner Symbolik auf den Punkt bringen. Deshalb hab ich auch ganze sieben Jahre daran gearbeitet, ich habe sieben Jahre gebraucht, um mein eigenes Wappen zu gestalten (schmunzelt).

Und was ist dabei herausgekommen, was zeigt dein Wappen nun?
Blumenthal: Ich wollte zeigen, was für mich wichtig, essenziell ist. Daher zeigen die integrierten Symbole die unterschiedlichen Sinneswahrnehmungen, Sound, Geruch, Geschmack – die gesamte Multisensorik meiner Küche: Eine Ente mit erhobenen und abgelegten Flügeln in Gold, die in ihrem rechten Fuß ein Vergrößerungsglas hält. Im Schnabel trägt sie drei blühende Lavendelstiele.

Oben im Schild findet man eine Apfelfrucht und unten zwei goldene Harfen sowie offene Hände. Der Apfel steht für den Geschmack, die Lupe für den klaren Blick auf die Dinge. Die Hände symbolisieren das Gefühl – und so weiter. Aber, wie gesagt, es stecken viele Jahre mit ganz vielen Gedanken darin … Heute ziert es jedenfalls meine Shirts und alles, wo es hinpasst.

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Was serviert Heston Blumenthal im Fat Duck als Aperitif? Seine gefrorenen Baisers mit Gin Tonic, Paloma, grünem Tee und Wodka – zum Beispiel.

Ein Detail sticht noch ins Auge: Das Fragezeichen unter dem Wappen …
Blumenthal: Ja, natürlich. Das steht für meinen Grundsatz, für mein Leitmotiv, das sich in all meinem Tun immer wiederfindet: Question everything, hinterfragt alles. Mit dieser Frage kommst du immer noch weiter als du zuvor gedacht hast. Du zoomst sozu­sagen immer tiefer in die Materie hinein. Das ist wie in der Quantenmechanik oder der Fraktal­theorie – es gibt immer noch eine tiefere Ebene. Diese Suche und das damit verbundene Experimentieren markieren den Kern meines Schaffens.

Heston Blumenthal
Eigentlich hätte der heutige Ausnahme-Chef gar nicht Koch werden sollen. Doch die französischen Kochbücher seiner Mutter faszinierten ihn – und so erlangte der passionierte Tüftler im Selbststudium eine Perfektion, die ihm keine klassische Ausbildung vermittelt hätte. 1995 eröffnete er schließlich in der kleinen britischen Ortschaft Bray sein The Fat Duck, das bis heute mit drei Michelin-Sternen ausgezeichnet ist. Sein Restaurant am Londoner Flughafen Heathrow ist aktuell das beste Flughafen-Restaurant der Welt, und sein Dinner by Heston Blumenthal im Londoner Mandarin Oriental Hotel mit zwei Sternen ausgezeichnet. Kürzlich eröffnete er eine Dependance auf Dubais künstlicher Inselgruppe The Palm.

 

Ist das auch der Grund, warum du gern als Alchemist bezeichnet wirst? Wie stehst du heute zu diesem Attribut, diesem Spitznamen, wenn man so will?
Blumenthal: Ja, das hat sicher auch damit zu tun, dass ich auf gewisse Weise Kunst und Wissenschaft in der Küche vereine, und immer vereint habe. Gleichzeitig finde ich persönlich die Alchemie sehr faszinierend. Man muss sich vorstellen, da haben Leute versucht, aus einfachen Steinen Gold oder Edelsteine zu machen. Sie haben das Unmögliche probiert.

Heute können wir unter großem Druck tatsächlich aus simplem Kohlenstoff Diamanten herstellen, das Unmögliche wurde also schlussendlich möglich. Ein Umstand, der mich sehr fasziniert. Ich meine, Alchemisten waren in gewisser Weise ihrer Zeit voraus. Und ich selbst habe erst vor wenigen Monaten eine Sache erkannt, die mir bis dato trotz des vielen Hinter­fragens verborgen geblieben war …

Was meinst du konkret, was ist passiert?
Blumenthal: Ich habe verstanden, dass gutes Essen die Fähigkeit besitzt, alles zu einen. Das Intrinsische mit dem Extrinsischen, Gefühle mit Können und Menschen mit Menschen. Ein perfektes Gericht eint einfach alles und jeden. Da ist auf der einen Seite die Fähigkeit, die perfekte Sauce zu bereiten, richtig gutes Essen zu machen. Gleichzeitig geht es um die Kunst, die eigenen Emotionen in dem jeweiligen Gericht zu spiegeln, zu integrieren. Also die Beziehung zu sich selbst schmeckbar zu machen.

Und dann geht es weiter darum, dass wir uns als soziale Wesen mit anderen Menschen verbinden wollen. Das bedeutet am Ende für mich, dass Essen der komplexeste, der schönste Mechanismus ist, um uns mit uns selbst zu verbinden – und mit unseren Mitmenschen.

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Drei Sterne, serviert im rustikalen Chic: Das erwartet die Gäste im Fat Duck. Und im Hintergrund wartet schon der Sweet Shop auf Rädern, den Heston Blumenthal eigens als Dessert-Gag entwickelt hat.

Das ist dir offenbar schon viel früher besser gelungen als den meisten anderen Chefs – du hast dieser Welt so viele Signature Dishes geschenkt. Woher kommen und kamen deine Inspirationen?
Blumenthal: Jedem einzelnen geht immer eine lange Entwicklung voraus. Aber es spielen ein paar grundlegende Erfahrungen und Erkenntnisse immer eine wichtige Rolle: Seit den 1990ern habe ich etwa mit einer der größten Parfümfirmen der Welt gearbeitet. Dabei habe ich bemerkt, dass neben visuellen Ebenen und Soundelementen der größte Trigger für uns Menschen der Geruch ist. Er öffnet die Tore zu ­unseren Emotionen.

Kannst du uns hier ein Beispiel nennen?
Blumenthal: Nehmen wir mein Gericht „Sound of the Sea“. Ein Teller, der Menschen die Tränen in die Augen getrieben hat. Das lag gar nicht so sehr daran, dass das Gericht so unglaublich war, sondern am Fakt, dass es in seiner Optik den Moment spiegelt, an dem Wellen am Ufer anrollen. Wenn dann noch die Geräusche von brechenden Wellen am Tisch leise eingespielt sind, versetzt der Moment die Gäste zurück in ihre Kindheit. Und dann macht der Geruch des Tellers den Rest, er führt zur Erfüllung.

„Nur Essen hat die Fähigkeit, alles zu einen. Auch uns Menschen!“

Wann weiß man, dass dieses Gericht das Zeug zum internationalen Signature Dish hat?Blumenthal: Das kann schon einmal vier Jahre dauern. Aber wenn man das Gefühl hat, jetzt gehört der Teller auf die Karte, dann ist auch alles möglich. Wichtig aber ist, dass man dann loslässt.

Denn Perfektion ist nichts, was man festhalten kann. Für mich steckt wahre Perfektion darin, zuzulassen, dass sich eine Sache oder eben ein Gericht dann auch immer wieder wandelt und verändert. Und so immer wieder neue perfekte Momente möglich werden, die allesamt jeder für sich nur eine Millisekunde existieren.

Du hast es ganz nach oben geschafft, hast dich in die Geschichtsbücher eingetragen. Hast du eine Art Superkraft in dir?
Blumenthal: Wenn du so willst, vielleicht (lacht). Vor ungefähr zehn Jahren wurde bei mir ADHS diagnostiziert. Diese Erkenntnis hat mir geholfen, mich selbst besser zu verstehen. Ich bin überzeugt davon, dass sie der Grund dafür ist, warum ich mir Zeit meines Lebens Fragen gestellt habe, warum ich Fragen auf den Grund gegangen bin, die sonst niemand gestellt hat. Es ist für mich der Schlüssel hinter sonst unüberwindbare Türen.

Ich bezeichne diese Diagnose auch nicht als Erkrankung, sondern tatsächlich als meine ganz persönliche Superkraft. Eine, die ich auch physisch spüre: Mein Kopf ist wie ein Thermometer, so sensibel. Ich kann genau sagen, wie warm oder kalt es gerade hier im Raum ist. Ich denke, das hat damit zu tun, dass mein Hirn immer mit besonders hoher Drehzahl läuft (schmunzelt) …

Kommen wir zurück zu den von dir erwähnten Fragen, die sonst keiner stellen würde. Was zum Beispiel?
Blumenthal: Was ich getan habe, ist, dass ich Inspiration von Musikern, Wissenschaftlern und verschiedenen anderen talentierten Menschen genommen habe und miteinander auf eine Weise kombiniert habe, die eigentlich nach logischem Denken gar keinen Sinn ergeben würde.

Ein einfaches ­Beispiel: Hast du schon einmal dein Handy im Kühlschrank gefunden, weil du es aus einem speziellen Grund hineingelegt hast? Ich schon. Viele solche Aktionen wirken sinnlos – aber so kommt man auch überraschend auf Dinge, die Sinn ergeben.

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Eine Täuschung für die Augen, ein Fest für die Sinne: Dieser Signature Dish sieht nur aus wie eine simple Mandarine und ist in Wahrheit ein außergewöhn­liches Leberparfait.

Du sprichst sehr offen über deine Diagnose, deine Superkraft. Warum?
Blumenthal: Ich hoffe, dass das offene Sprechen über meine psychische Gesundheit das Bewusstsein für dieses Thema schärfen wird, und ich möchte dafür kämpfen, das Potenzial von Neurodivergenz im Arbeitsumfeld hervorzuheben. Der künstlerischste, innovativste und spannendste Teil meiner Arbeit ist auf Neurodivergenz zurückzuführen, die ich als meine Superkraft beschreibe.

Die Welt muss über anachronistische und veraltete Vorurteile in Bezug auf wahrgenommene Unterschiede hinauswachsen, um die Chancen zu nutzen, die diese Bedingungen bieten. Das bedeutet auch, dass wir in unserem ­Bildungssystem Raum finden müssen, für Menschen, die nicht so linear funktionieren wie andere. 

Sind Menschen mit ADHS vielleicht eigentlich Genies?
Blumenthal: Nein, das will ich damit keineswegs sagen. Aber statt eine Diagnose zu bekommen und auf Medikamente zu setzen, sollte man vielleicht weiterdenken und für sich Wege suchen, in denen ADHS ein Vorteil und kein Nachteil ist. Dieser Weg führt viel eher zu Erfüllung als der Versuch, sich mit Medikamenten „normal“ zu machen, glaube ich.

Gerade in Anbetracht der aktuellen Entwicklung – Stichwort Klimakrise – wird es viele neue Ideen und Visionen geben müssen, auch in der Gastronomie. Wie wird sich die Branche, im Hinblick auf diesen Wandel, deiner Meinung nach verändern?
Blumenthal: Grundsätzlich halte ich nichts von Trends, da bin ich immer sehr skeptisch. Aber ich liebe es zu sehen, dass immer mehr Menschen auf die vegetarischen Möglichkeiten der Küche reflektieren und hier unglaublich viel experimentiert wird. Hier werden Geschichten erzählt, neue Texturen entstehen, neue Gerüche. Ich denke zudem, dass diese Entwicklung unserem Planeten gut tut. Vor allem aber auch uns als Menschen.

Heute wissen wir, dass die mentale Gesundheit unter anderem von unserer Ernährung abhängt. Es gibt immer mehr Beweise, dass das, was wir zu uns nehmen, unsere mentale Gesundheit beeinflusst, bis hin zu Alzheimer, Parkinson, ADHS, Autismus und so weiter. Das ist ein sehr spannendes Feld.

Was sagt der erfahrene Heston Blumenthal zu den jungen Menschen, die heute in seine großen Fußstapfen treten wollen?
Blumenthal: Ganz klar, dass man versuchen muss, die Grundlagen der Klassik in Europa zu verstehen. Und während ein junger Chef diese Basis lernt, soll er ohne Unterlass hinterfragen, ob das alles wirklich so ist, wie es scheint, wie es erzählt wird. Ist es vielleicht in Ordnung, Muscheln unter kaltem Wasser zu waschen? Die Leute sagen, nein, aber es ist in Ordnung, glaub mir (lacht). Und so weiter …

Eine Sache verändert sich sehr langsam: Nach wie vor stehen viel zu wenige Frauen in der ersten Reihe. Was muss passieren, dass sich das endlich ändert?
Blumenthal: Es ändert sich schon, zum Glück. Aber das braucht Zeit. Noch vor zehn Jahren war die Branche eine reine Männerwelt, das hat sich schon verändert. Aber es müssen dringend mehr Frauen in die Spitzenküche – und zwar aus einem einfachen Grund: Frauen verfügen über einen viel besseren Geruchs- und Geschmackssinn als Männer. Es wäre eine wunderbare Evolution für alle, die gerne besonders gut essen gehen.

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