Endlich unendlich saufen: Das steckt hinter alkoholfreiem Wein
Die nüchternen Zahlen sprechen eine klare Sprache: Der Absatz an alkoholfreiem Wein hat sich – dem neuen Gesundheitsbewusstsein in der Bevölkerung sei Dank – in den vergangenen Jahren mehr als verdoppelt. Allein im Coronazeitraum lag das Wachstum dieses Marktsegments bei 35 Prozent.
Die nüchternen Zahlen sprechen eine klare Sprache: Der Absatz an alkoholfreiem Wein hat sich – dem neuen Gesundheitsbewusstsein in der Bevölkerung sei Dank – in den vergangenen Jahren mehr als verdoppelt. Allein im Coronazeitraum lag das Wachstum dieses Marktsegments bei 35 Prozent.
Der Mann hinter dieser Rechnung ist Bernhard Jung. Und er muss es wissen: Sein Urgroßvater hat vor über 100 Jahren jenes Verfahren erfunden, mit dem bis heute alkoholfreier Wein hergestellt wird. Heute setzt das Familienunternehmen Carl Jung zehn Millionen Liter alkoholfreien Wein ab. Ganz nach dem Motto des Weinpioniers: Wein braucht Geschmack. Keinen Alkohol. Genau das aber ist aktuell auch der Zankapfel, wenn es um Wein geht, dem man den Alkohol entzieht. Um das zu verstehen, müssen wir aber kurz einen Blick zurück in die Vergangenheit werfen. Und quasi Weinhändler und Winzer Dr. Carl Jung Anfang des 20. Jahrhunderts über die Schulter schauen.
Die Tatsache, dass man für alkoholfreien Wein Aromasorten verwendet, führt dazu, dass das Fehlen der Aromen stärker auffällt!
Sindy Kretschmar spricht an, was man (nicht) schmeckt
Der findige Mann aus dem Rheingau fand damals heraus, dass sich Alkohol im Vakuum bei geringer Hitzezufuhr verflüchtigt. Daraus entwickelte er ein schlichtes Destillationsverfahren, mit dem man Wein den Geist entziehen konnte, ohne dass der Wein selbst Schaden nahm. Dieses Verfahren hat sich bis heute kaum verändert, es wurde bloß perfektioniert. Allerdings sind auch die damals schon bekannten Probleme geblieben: Nachdem Alkohol im Wein als Geschmacksträger fungiert, verdampft nicht nur die berauschende Substanz, sondern auch ein Großteil der Weinaromen. Womit wir bei des Pudels Kern angelangt wären.
Und bei einer weiteren Erfindung, die die alkoholfreien Weine aus dem Hause Carl Jung zu besonderen Tropfen machen. Benjamin Carl erklärt: „Wir sind in der Lage, einen Großteil der verdampfenden Aromen wieder einzufangen und später in den alkoholfreien Wein rückzuführen.“ Damit würde viel Weingeschmack bei einem vernachlässigbaren Alkoholgehalt von 0,2 Volumsprozent in die Flasche kommen. Hinzu komme, so Carl, dass ausschließlich Weine alkoholfrei gemacht werden, die in ihrer Basis besonders aromareich sind.
„Wir kaufen nur von Winzern zu, die nach unseren Kriterien Weine produzieren“, sagt der Fachmann. Dabei reicht das Angebot von Riesling über Chardonnay, Grüner Veltliner und Sauvignon Blanc bis hin zu Shiraz, Cabernet Sauvignon und diversen Couvées. Spannend: Die Weine werden nur minimal teurer angeboten, als ihre alkoholischen Kollegen. „Dabei“, so Carl, „verlieren wir durch den Destillierungsprozess gut 20 Prozent der Menge.“ Hintergrund dieser Kalkulation: Ganz im Sinne einer Zero-Waste-Mentalität landet der entnommene Alkohol keineswegs im Abfluss. Vielmehr wird er als Weinbrand entweder direkt weiterverkauft oder zu Likören und Spirituosen weiterverarbeitet. „So gelingt eine schonende Kalkulation über das gesamte Sortiment“, rechnet der Unternehmer vor.
Der Faktor Preis in Kombination mit geringem Kaloriengehalt und höherem Gesundheitsfaktor ebnet ganz offensichtlich den Weg in die Gläser der Menschen. Allein, jener in die Sternehäuser und den Fine-Dine-Bereich scheint versperrt, wie Carl moniert: „Wir erleben zwar in unserer Umgebung, dass einige Weinstuben unsere alkoholfreien Weine anbieten und auch gut verkaufen, doch insgesamt steckt der Vertrieb in die Gastronomie noch in den Kinderschuhen.“
Kann man Weine einfach nachbauen?
Das sieht die Gegenseite wenig überraschend ebenso. „Bei uns im Restaurant spielen alkoholfreie Weine aktuell gar keine Rolle“, sagt etwa Sindy Kretschmar. Die Sommelière aus dem „Dstrikt Steakhouse“ im „The Ritz-Carlton, Vienna“ hat sich aber selbst aktiv in das Thema vertieft. Schließlich sind alkoholfreie Essensbegleitungen sehr wohl relevant. Sie sagt: „Ich muss ehrlich gestehen, bis auf wenige Ausnahmen hat mich das, was ich in diesem Bereich verkostet habe, enttäuscht.“
Sie sieht in der Tatsache, dass vorwiegend Aromasorten dazu verwendet würden, alkoholfreie Weine zu erzeugen, die Krux an der Sache: Schließlich würde man gerade bei intensiven Rebsorten sogleich merken, wenn die Aromen nicht ausreichend vorhanden sind. Es fällt also noch stärker auf als bei einer Rebsorte, die von vornherein am Gaumen weniger intensiv ankommt. „Außerdem merkt man bei vielen entalkoholisierten Weinen, dass Säure künstlich zugesetzt wurde.
Diese Spitzen nehmen dem Wein seine Eleganz.“ Ihr persönliches Fazit: Lieber mit anderen Methoden Weingeschmack nachbauen. „Ich biete gerne Alternativen, die etwa aus Traubensaft mit Gewürzen, Kräutern und Gemüse bestehen und in Kombination etwa mit Essig eine Aromenwelt generieren, die gerade für uns im Steakhouse sehr spannend ist.“
Mit eigenem Parfum zu mehr Weingeschmack
Ähnlich sieht die Sache ihr Fachkollege Hauke Hellbach. Der Head Sommelier in Alexander Hermanns „Aura“ im deutschen Wirsberg setzt gemeinsam mit seinem Kollegen Joschi Oswald aus dem innerbetrieblichen Future-Lab „Anima“ darauf, selbst Weinen den Alkohol zu entziehen und dann nicht etwa die extrahierten Aromen wieder beizumengen, sondern durch frische zu ersetzen. „Wir haben lange herumexperimentiert, bis wir zumindest für Rotweine eine wirklich spannende Lösung gefunden haben“, sagt er. Konkret haben Hauke und Kollegen ein Kräuterparfum auf Rosmarin- und Thymianbasis erstellt.
Unser Parfum aus Thymian und Rosmarin funktioniert gerade bei Rotweinen sehr gut!
Sommelier Hauke Hellbach ist ein Tüftler
Dieses sprühen sie in die leere Flasche, ehe der alkoholfreie Wein eingefüllt wird. „Gerade bei Rotweinen funktioniert das aus unserer Sicht so gut, dass wir diese Weine auch gerne in eine akoholfreie Weinbegleitung integrieren“, so der Experte. Er sieht aber genauso wie Kollegin Sindy Kretschmar in Wien die Zukunft einer alkoholfreien Weinbegleitung keineswegs im schlichten Ausschenken alkoholfreier Weine. Vielmehr spricht der 31-Jährige von einer „dynamischen Weinbegleitung“, in der alkoholische und alkoholfreie Getränke serviert werden. Oder aber, falls rein alkoholfrei gewünscht wird, unterschiedliche Lösungen dafür geboten werden sollen.
„Da kann schon der eine oder andere alkoholfreie Wein dabei sein, aber es gibt so viele andere Möglichkeiten, um eine geschmacklich spannende Getränkebegleitung zu inszenieren!“ Sein Zaubermittel: Kombucha. In Kombination mit verschiedenen Fruchtsäften würde dessen natürliche Säure sehr interessante Noten auf Gaumen und Zunge zaubern.
Ein Zugang, der für Sommeliers seiner Meinung nach überhaupt ein neues, spannendes Feld aufsperrt. „Ich glaube, dass wir generell in Zukunft verstärkt Getränke an die Gerichte anpassen werden und nicht nach Getränken suchen, die zu Gerichten passen.“ Ein Zugang, der vielleicht nicht nur von Gästen gemocht wird, die auf Wein verzichten wollen. Sondern auch von erklärten Weinfans, die einfach einmal etwas anderes ausprobieren wollen.
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DAS IST ALKOHOLFREIER WEIN
Alkoholfreier Wein ist immer ein normal vergorener Rebensaft, dem man mittels einfachem Destillationsverfahren den Alkohol entzieht. Um möglichst viele Aromastoffe im Getränk zu erhalten, passiert das unter Vakuum, wodurch der Prozess schon bei unter 30 Grad Celsius in Gang gesetzt wird und nur wenige Minuten dauert. Moderne Entalkoholisierungsanlagen gelingt es zumindest teilweise, Aromastoffe rückzugewinnen und wieder zuzusetzen. Als Abfallprodukt bleibt bei dem Prozess hundertprozentiger Alkohol zurück, der meist als Weinbrand weiterverarbeitet wird.